Vom Kritiker zum Kendrick

Südpol Luzern, 22.11.2018: Eine jenseitige, zweijährige Idee wird wahr. Christoph Fellmann und Martin Baumgartner spielen Kendrick Lamars «To Pimp a Butterfly» nach, Track für Track. «This Dick ain't Free» – Die Theaterperformance im Konzertgewand, sie reimt sich.

Fotos: Franca Pedrazzetti

März, 2015: Der Kulturkritiker Christoph Fellmann sitzt in seinem wohlbehüteten Tages-Anzeiger-Büro. Er schreibt eine Rezension von Kendrick Lamars drittem Studioalbum «To Pimp a Butterfly». Und urteilt: «Kendrick Lamar ist die neue Stimme des schmerzhaften Selbstbewusstseins der Schwarzen.» November, 2018: Der Theaterperformer Christoph Fellmann steht auf der Bühne der grossen Halle des Südpols und urteilt über seine Kritik von damals: «Das habe ich geschrieben. Was für ein Scheiss.»

Heute Abend covert Fellmann, zusammen mit dem Luzerner Musiker Martin Baumgartner, das ganze Album von Lamar. Die beiden haben vor zwei Jahren mit dem Projekt «This Dick ain't Free» begonnen, das Album analysiert, ausgeklopft, musikalisch frisch arrangiert. Die multiinterpretierbaren Rap-Rhymes von Lamar dienten dabei als Blaupausen für Fellmanns eigenen Lebensweg. Weg aus dem Horwer Ghetto, weg von den Indie-Rock-Rührseligkeiten. Weg von verflossenen Liebschaften, die mit ebendiesen Indie-Rock-Rührseligkeiten verknüpft sind. «Wesley’s Theory», der erste Track auf dem Album, klingt so: At first / I did love you / But now I just wanna fuck (…) Get it all / you deserve it / Christoph.

Es sieht aus wie ein Hip-Hop-Konzert: Sechs, sieben, acht Scheinwerfer zünden direkt auf Kendrick Fellmann, dem unterhalb seiner Camouflage-Jacke das graue Beanie aus den Fubu-Hosen hängt. Es tönt wie ein Hip-Hop-Konzert: Die Bässe bangen, Martin Baumgartners Beats bringen’s und seine Vinyl-Scratches sitzen. Aber es ist kein Hip-Hop-Konzert: «For Free? (Interlude)» wird zu einer der Vergangenheitsbewältigung dienenden Oasis-Ballade, einen anderen Track bricht Fellmann nach einigen Sekunden ab, weil «der ist eh nicht so gut». Ja, «This Dick ain’t Free» ist Selbstfindung und Selbstdarstellung. Und damit ein erfrischendes Gegenargument gegen die heute zum guten Ton gehörende, durchgekaute Kritik am Individualismus: Ehrliche, radikale Individualisierung.

fellmann baumgartner am rappen

Aber, aber, aber – darf er das? Das Hip-Hop-Album eines Afroamerikaners covern? Ist das nicht die Mutter von political correctness, nämlich cultural appropriation? Das ist doch völlig egal. Denn wenn Christoph Fellmann jetzt nicht auf dieser Bühne stehen und ein Rap-Album des 21. Jahrhunderts covern würde, dann sässe er noch heute in seinem wohlbehüteten Tages-Anzeiger-Büro. Er wendet sich radikal ab vom Kritiker, der nie genügt, weil dieser immer kleiner und unbedeutender sein wird als sein Gegenstand. Auch wenn er noch so gut schreibt. Und wenn es da aufhören würde, dann ginge es wirklich nur um ihn, den Christoph Fellmann. Aber da ist noch mehr.

Bitterböse rappt Fellmann davon, jetzt auf Schweizerdeutsch, wie real es ist, sich zu fragen, wann man das letzte Mal zuhause gestaubsaugt hat. Why the fuck man es nie schafft, den Avocadokern zu entfernen, ohne dass noch Fetzen daran kleben. Von seinem game mit der Pfeffermühle, bei der beim Auffüllen die meisten Pfefferkörnchen auf den Boden fallen. Die Dringlichkeit, das Compton und der Weltschmerz, sie fehlen uns. Deshalb fehlen uns auch die Lamars. Aber Fellmann diggt noch deeper, treibt die Selbstdemontage auf die Spitze: «This Dick ain’t Free» habe er nur gemacht, um wieder «Nigger» sagen zu können. Und dann sind wir am Ende: Fellmanns radikale Selbstperformance, sie ist zu unserer eigenen geworden. Der Geist wendet und windet sich: Weshalb mache ich dasjenige, was ich mache? Bin ich das wirklich? Kann und darf ich das? Bin ich Rassist, ohne es zu wollen? «This Dick ain’t Free». Aber Christoph, er ist jetzt frei. Und diese Freiheit ist ansteckend.

Weitere Aufführungen: FR 23. November und SA 24. November, jeweils 20 Uhr, Südpol, Luzern

Idee und Umsetzung: Christoph Fellmann, Martin Baumgartner

Produktionsleitung: Annette von Goumoëns

Regie: Giulia Baldelli

Ausstattung: Nina Steinemann

Licht und Ton: Pavel Mischler

Rapcoach: Luzi Rast

Stimmcoach: Bruno Amstad