Kolosse im KKL

KKL, 06.09.2015: Im Rahmen des Lucerne Festival fand eine aussergewöhnliche Uraufführung statt: Das Lucerne Festival Academy Orchestra traf auf die irrsinnigen Jazzer von Hildegard Lernt Fliegen und performte «The Big Wig». «Gross» lautete dabei nur der Vorname - im wahrsten Sinne des Wortes.

(Bilder: Reto Andreoli)

Momentan scheint Tausendsassa Andreas Schaerer anfassen zu können, was er will: Es wird zu Gold. Der mehrfach preisgekrönte Vokalakrobat und Komponist (u.a. Echo Jazz als bester internationaler Sänger) begeistert, egal ob solo oder in der Gruppe. Die Konsequenz? Jetzt sollte ein Sinfonieorchester her! Und was für eines: Geschätzt 50 bis 60 Musikerinnen und Musiker des Lucerne Festival Academy Orchestra spielten mit Schaerers Stammformation Hildegard Lernt Fliegen ein Konzert, welches als vorweggenommenes Fazit nur ein Adjektiv zuliess: gigantisch.

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«Wenn zwei Giganten aufeinandertreffen...». Da wären Andreas Schaerer’s Hildegard lernt fliegen: Andreas Tschopp (tb), Benedikt Reising (sax, cl), Christoph Steiner (dr, perc), Matthias Wenger (sax) und Marco Müller (kb) sorgten an diesem Abend für die musikalisch-mächtige Präsenz Hildegards; es flogen die Finger über die Saiten, die Schlägel über Marimba sowie Trommeln und die geblasenen Noten über die Köpfe von Musiker_innen und Zuhörer_innen. Frontmann Schaerer unterhielt das Publikum indessen nebst seinen stimmlichen Zaubereien mit vielen spannenden Informationen und Anekdoten. Etwa, wenn er erklärte, verzweifelt eine ungestörte Örtlichkeit zum Komponieren gesucht zu haben, wobei ihm aber Presslufthämmer oder ein Pianist andauernd in die Quere kamen, bis er deren Geräuschemissionen schlussendlich in seine Kompositionen  einbaute – und sogleich von der Erzählung in den Song überging. Beatboxen, Operngesang, Trompetenimitation, unglaublich hoch, wahnsinnig tief: Was kann dieser Mann eigentlich nicht? Lustig, ehrlich, sympathisch: Kein Wunder, ist der in Bern wohnhafte Vokalist aktuell weltweit gefragt. An diesem Abend stand er nicht nur als Arrangeur und Frontmann im Mittelpunkt, sondern diente zudem als Bindeglied zwischen Band und Orchester.

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Das Lucerne Festival Academy Orchestra ist ein Projekt, welches von Pierre Boulez und Festivalintendant Michael Haefliger gegründet wurde. Rund 130 begabte Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt erhalten die Möglichkeit, mit hochkarätigen Dozenten sowie Dozentinnen insbesondere (aber nicht nur) Werke der Neuen Musik erarbeiten zu können. An diesem Abend sollte mit einer Auswahl der Bogen zum Jazz gewagt werden – und er gelang hervorragend. Stücke wie «Seven Oaks», «Don Clemenza» oder «Zeusler (revised)» (das Lieblingsstück vom argentinischen Dirigenten Mariano Chiacchiarini) gelangen schlichtweg atemberaubend gut. Kein lasches «wir spielen mal rasch ein paar Gesangs- oder Saxofonlinien nach», sondern raffinierte und zugleich so vermeintlich simple wie knackige Figuren waren da zu hören. Eine anspruchsvolle Aufgabe, wenn man für vier Perkussionisten oder zwei Harfen mitkomponieren musste/durfte; sie wurde mit einer Glanzleistung erfüllt.

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Besonders erfreulich erschien die Leidenschaft, welche von den Musiker_innen gezeigt wurde; regelmässig erblickte man ein Strahlen oder ein Grinsen, es wurde gescherzt, gegroovt (besonders bei den Perkussionist_innen) und gewagt. Das Publikum bedankte diesen einzigartigen Abend mit einer verdienten Standing Ovation, nicht zuletzt auch für Dominik Deuber und Mark Sattler, welche dieses überwältigende Werk in die Wege leiteten. Mehr Experimente dieser Art, bitte sehr!