Eine Überdosis Kunst gefällig?

Ganze Stadt Luzern und Agglomeration, 30.08.2014: Einmal im Jahr dreht sich in Luzern alles um die zeitgenössische Kunst. Dieser Aktionstag hat einen Namen, den man wohl auch in Zukunft nicht mehr wegzudenken vermag: Kunsthoch. Eine schriftliche Raserei durch ausgewählte Ausstellungsorte gibt einen Einblick in den Kunstkuchen von Heute-

Aus allen Ecken strömen die Kunstfreunde und wandern quer durch die Stadt. Von Museum zu Kunstraum, von Galerie zu Kunsthalle. Von Kriens bis nach Emmenbrücke, zurück auf die Tribschenhalbinsel, von dort nach Meggen und wieder zurück in die Stadt Luzern. Am gemeinsamen Aktionstag der Luzerner Kunstinstitutionen kann man in diesem Jahr insgesamt 23 verschiedene Örtlichkeiten besuchen, die sich alle dem Präsentieren zeitgenössischer Kunst verschrieben haben (deshalb mögen die Sammlung Rosengart oder das Schach- sowie das Militärmuseum in Kriens davon ausgeschlossen sein). Künstler, Kuratoren, Studenten und sowieso jeder, der jemanden aus dem Kunstdunst kennt, ist am Kunsthoch irgendwann irgendwo anzutreffen. Allerspätestens am Abend während des abschliessenden Kunstfestes im Neubad. Davon aber später. Der Autor hat sich auf die Kappe (die er momentan nur selten trägt) geschrieben, möglichst vielen Kunstorten schnellstmöglich einige Impressionen abzugewinnen. Diese Art der Betrachtung war zwar wenig kontemplativ und glich mehr einer Speedy-Gonzales-Oddysee, als dass es ein tiefgründiges Auseinandersetzen mit dem Gezeigten sein konnte. In diesem Sinne lässt sich die Berichterstattung von nahezu 12 Stunden Hardcore-Kunstbetrachtung als stakkatohafte Zusammenfassung ohne Garantie auf Vollständigkeit verstehen. Also los geht’s! Einmal tief Luft holen! Vor dem offiziellen Beginn um 11 Uhr morgens kann man sich mit einem freundlichen Lächeln gratis ins Kunstmuseum Luzern einschleusen. Man muss ja Zeit sparen. Zu sehen gibt es vor allem Hans Emmenegger. Solide Malerei. Viel Wald, viel Wiesen, viel Hügel, einige Früchte, paar Portraits und Tierdarstellungen. Eine sehr lebendige Art von Malerei, vor allem was die subtilen Einsichten in Waldstücke und Baumstammbestände betrifft. Wer nach dieser Ausstellung noch nicht genug von Landschaftsmalerei hatte, konnte sich die Naturdarstellungen bei «Ins Offene!» von Robert Zünd und Ferdy Hodler bis Max v. Moos noch gönnen. Aber besser wieder raus aus den Hallen an die frische Luft, zumal Roland Roos (Sieger Manorkunstpreis) nicht in der Werkstatt bei der Produktion von Publikationen zu sehen war.

Studiert man den Kunsthochflyer, steht da eine Handynummer. Silver-Wassertaxi zwischen Meggen und Luzern. Hört sich gut an. Anrufen. Abmachen. 13.00 Uhr Inseli? Okay. Falls man ohne Fahrrad unterwegs gewesen wäre, hätte man beim KKL die Möglichkeit gehabt, von National Suisse bereitgestellte Räder auszuleihen. Der Autor vertraute seinem alten Drahtesel und braust Richtung Haldenstrasse auf. Galerie von Renata Müller. Als Erstes fällt auf, der Schnipsler war schon da. Und das wird er noch oft gewesen sein… *

Bei Müller findet die Eröffnung einer Einzelausstellung von Daniel Svanton statt. Er ist gebürtiger Tscheche und bei seiner Malerei auf der Suche nach dem Moment der heiteren Stille. Die ungegenständliche Malerei fokussiert auf die Gefühlswelt des Betrachters (und des Malers), und dies einzig durch Überlagerungen von Farben und Formen. Eigentlich müsste man sich die Bilder in aller Ruhe ansehen, und nicht in einer von Hektik getriebenen Phase. Also: unbedingt nochmals in aller Ruhe kommen!

Gleich um die Ecke, es schlägt 12 Uhr bei der Hofkirche, befindet sich die Galerie Vitrine. Auch hier eine Eröffnung. Evelyne Walker, die Galeristin, findet Zeit für ausgiebige Erklärungen der ausgestellten Werke. Nicht von Unbekannten, hat es durchaus Neuartiges in der Ausführung. Wer kennt die äusserst ästhetische Aktfotografie von Thurry Schläpfer? Ein augenfälliger Gegensatz zu seinen malerischen-zeichnerischen Arbeiten. Oder die Begabung zur fotografischen Selbstinszenierung von Jesco Tscholitsch? Teils androgyn, teils machohaft-verbrecherisch verkleidet sich Tscholitsch als Super-Heros. In der Galerie als grossformatige Paste-Ups auf Kartonage oder als Bierdeckeledition zu sehen, bzw. erhältlich. Da wären auch noch Stephan Wittmers Fotografien, die dasjenige festhalten, was gerade vor die Linse fällt, sowie Schwarz/Weiss-Schnappschüsse aus dem New York der 80er-Jahre von Cornelia Wilhelm-Ruckli. Und Claudia Bucher, eine Performance war für 14 Uhr angekündigt, hinterlegte ihre bekannten Gebilde aus Zucker, Beerensaft und Rebgazen.

Die Zeit wird knapp, die Bootsfahrt ist gebucht. Schnell noch rauf zur Galerie Meile. Einen Einblick in die Kunst aus dem fernen Osten. Und der hat es in sich. Li Gang heisst der blutjunge Exportschlager aus China. Da wäre eine kleine Holzkiste mit fünf schwarzen Blöcken, die aus den Ablagerungen von Autoabgasen komprimiert wurden. Er thematisiert dabei die traditionelle Herstellung chinesischer Tinte. Übrigens gehört die Kiste mittlerweile Ueli Sigg… für einen Schnäppchenpreis versteht sich. Dass die Chinesen unumstrittene Meister in akribischen Arbeitsweisen sind, davon zeugt die Arbeit Beads No. 3, die insgesamt 504 Holzkugeln in sämtlichen Grössen beinhaltet. Gefertigt aus einem einzigen toten Baum. Jede Kugel steht für einen Ast, eine Wurzel oder ein Zweig der aus dem Stamm gewachsen ist. An Poetik kaum überbietbar und in Kombination mit den zugepflasterten Ölmalereien an den Wänden durchaus eine Augenweide.

Eigentlich mal an eine Pause gedacht? Nein. Denn auf dem Rückweg kann man ja noch kurz bei der Galerie Hilfiker Kunstprojekte vorbeischauen. Hier geht es minimalistischer zu und her. Wieder eine ganz junge Künstlerin, Martina Böttiger. Schweizerin. Zeichnet nur auf gebrauchtes Papier. Leicht zerknittert, noch stärker wirkt der Effekt durch den Einsatz von wässriger Tusche für die Zeichnungen von Innenräumen, Schlafzimmern und einem kubistischen Pferd. Auch das Treppenhaus hat die Galerie mit Böttigers Arbeiten ausgestattet. Das Konvolut von 11 Tonplastiken blieb hingegen unbeachtet. Zumindest vom Autor.

SMS. Bootfahrt: 10 Minuten Verspätung. Easy. Noch schnell zu ALMA in die Galerie Tuttiart. Mit dem Velo durch die Altstadt scheint immer noch verboten zu sein. Und an einem Samstagnachmittag auch eine unnötige Idee. ALMA sind Max Frei und Alf Hofstetter. Ersterer steht in der Galerie, trägt wunderschöne 50er-Jahre-Lederschuhe. Die Geschichte dazu liefert er gleich mit. An den Wänden eine Vielzahl kleinformatiger Bildpaare. Diverse Mischtechniken lassen sich entdecken. Die Künstler arbeiten miteinander und gegeneinander. Ein Agieren und Reagieren auf den jeweils anderen bestimmt ihre Vorgehensweise.

Jetzt aber los Richtung KKL/Inseli Bootssteg. Das Silvertaxi wartet. Ein altes, leicht klappriges, aber charmantes Mini-Böötli. Und mit ihm zusammen die beiden Kunstgesellinnen a&a (Annina Nora Burkhalter und Allina Amayi Wittmer). Dazu ein Glas Weisswein (oder auch zwei) aus der Kellerei Schloss Meggenhorn und ab geht es Richtung Meggen, mit Zwischenstopp und Foto-/Videotermin beim Tribschenhorn.

Bei der Ankunft im Benzeholz an der Seepromenade in Meggen ist man zuerst überwältigt von dem zusammengetragenen Interieur der Kunstbohème-Gesellinnen und sogleich wird man, wie es für richtige Zunftsleute gehört, zünftig mit Essen versorgt. Die karamellisierten Kürbisschnitze mit Schlagrahm munden (schmecken nach Kastanien) und werden durch Pralinen im obersten Ausstellungsstockwerk abgerundet. Im 2. Stock noch ganz kurz dem Gras beim Wachsen zugeschaut, geht es mit der S-Bahn wieder retour nach Luzern.

Pause? Nein. Weiter geht es! In der Altstadt noch ganz ganz kurz die Holzschnitte von Alois Hermann im Zöpfli angeschaut, geht es sogleich weiter zu Hans Eigenheer im Erfrischungsraum. Der Grandseigneur selbst ist zwar nicht vor Ort, aber dafür eine Vielzahl seiner jüngsten Arbeiten.

Seit mehr als 40 Jahren besteht der kleine Ausstellungsraum Apropos im Sentimattquartier. Der umtriebige Ruedi Schill stellt seine Sammlung an Rubberstamp Art aus. Mehrheitlich aus den 70er- und 80er-Jahren. Schill selbst war ein eifriger Mitstreiter dieser Kunstgattung. Fein säuberlich in Ordnern dokumentiert, liefert er allerlei Anekdoten zu den vorliegenden Arbeiten und Dokumenten. Man könnte sich stundenweise darin vertiefen. Auch in den weiteren Archiven von T-Shirt Art, Tape Art und Mail Art.

Das klapprige Velo fährt mit dem Autor (oder umgekehrt) nach Emmenbrücke. Standort in der Peripherie. Nicht die AB Gallery, aber die Kunstplattform Akku mit der aktuellen Fotografieausstellung «Emmenbronx – Anders als man denkt». Kaum im Ausstellungsraum angekommen, ein paar Secondos und Terzos vor ihren BMWs oder dem Supermarkthotspot Seetalplatz inklusive McDonald’s auf den Bildern von Fabian Biaso angeschaut, forderte Kuratorin Natalia Huser die paar Besucherinnen und Besucher auf, ihr zu der Performance von Irina Lorez zu folgen. Von einem Baustellengerüst aus war der Blick auf die Grossbaustelle Seetalplatz gerichtet. In Brautkleid und Wanderschuhen tänzelnd, schlängelnd, kriechend bewegte sich Lorez über Betonröhren und Kieshügel. Irritiert waren höchstens die Autofahrer.

Zum Glück war es ein grandios schöner Tag, sonst wäre die Rückfahrt mit dem Fahrrad zur Wasserschlacht geworden. Wieder in der Stadt, rechts abbiegen nach dem Meridiani - dort war die Austrinkete bereits voll im Gange - , Richtung Obergütsch. Durch ein Privatareal hindurch zum Kunstpavillon, dem ehemaligen Amt für Umwelt. Darin befinden sich der sic! Raum für Kunst und der o.T. Raum für aktuelle Kunst. Hinter dem spanischen Glitzervorhang gab es die nächste Performance. Rory Pilgrim, ein englischer Künstler und seine Compagnons tanzten in der Gruppe, körperbetont, leicht lasziv (aber mit Kleidern). Was spontan aussah, konnte einstudiert sein oder umgekehrt. Jedenfalls ein vergnüglicher Anblick von Bewegung, Tanz und Körpererfahrung. Nice to meet you!

Die Zeit schmolz dahin, noch knapp eine Stunde Kunsthoch. Kurzer Smalltalk und schnell weiter. Alpineum Produzentengalerie hiess die nächste Station. Leider keine Zeit den Ausstellungstext zu lesen, was wohl wichtig gewesen wäre, aber Bier und die Praktikantin haben mehr interessiert. Die Arbeiten kurz fotografiert, Reflexion findet erst zu Hause statt. Vielleicht. Der Kopf und sein interner Bildspeicher sind bereits reichlich überfüllt. Auf jeden Fall eine konzeptuell-theoretische, komplexe Ausstellung, kuratiert von der internationalen Künstlerstiftung Whatspace. Es geht vor allem um den künstlerischen Diskurs und die theoretische Hinterfragung von Kunstproduktion. Zusammengefasst hiess das auf dem Papier: Was ist die Beziehung zwischen dem politischen Bewusstsein und der Autonomie eines Kunstwerkes und ihres Produzenten? Antworten darauf soll die Ausstellung liefern.

17.45 Uhr war in der Agenda eingetragen. Pavillon Tribschenhorn besuchen. Die neon-orangen Plakate waren in den vergangenen Tagen unübersehbar. Sie kündeten die wachsende, siebenstündige Performance aus Tanz, Sounds und Visuals von Zoë Dowlen, Steven Todd und Rolf Gisler an. Was um 11 Uhr begann, und beinahe stündlich weiterentwickelt wurde, endete in der finalen Darbietung, bei der die Herzfrequenz der Protagonistin Zoë Dowlen über FM-Wellen an elektrische Geräte abgegeben wurde und dadurch die Geschwindigkeit der Soundebenen sowie der Visuals definierte. Die komplexe Vernetzung von Technik und Menschlichkeit kulminierte in einer Performance, die sich in roboterhaften Körperbewegungen der Performerin ausdrückte. Eine spannende Szenerie an der Schnittstelle von Performance, Musik und Videokunst. Nun war 18 Uhr. Kunsthoch offiziell zu Ende. Aber nicht für alle.

Mehrheitlich die Veranstalterinnen und Veranstalter der Kunstinstitutionen, die ganztägig brav ihre Räume gehütet und fleissig ihre Kontakte gepflegt und aufgefrischt haben, trafen sich allesamt zum krönenden Abschluss im Neubad. Draussen gab es leckeres Essen und ab 21 Uhr noch ein Surplus für alle Kunstfans. Les Reines Prochaines, seit einer Ewigkeit wiedermal in Luzern zu Gast, gaben ihr Kuddelmuddel aus Performance, Musik, Kabarett und Vokalkunst im Schwimmbecken zum Besten. Ihr neuester Streich, das Album «Blut», wurde selbstverständlich in blutroter Aufmachung vorgetragen. Musikalisch nicht immer über alle Zweifel erhaben, dafür umso lustiger und trashiger mussten die vier Damen, namentlich Fränzi Madörin, Muda Mathis, Michèle Fuchs und Sus Zwick, nicht um die Gunst des Publikums buhlen. Alle ein wenig erschöpft vom anstrengenden Tag, blickten sie interessiert und teilweise perplex auf das Dargebotene. Eine Hommage an die Farbe Grau, feministische Kulturtheorien, ein hegemonialer Menstruationszyklus oder eine Ode an den Schlaf gehörten zum Repertoire von Les Reines Prochaines. Absurd-witzige Nonsense-Kreativität traf auf computerbasierte Musik und live eingespielte Instrumente wie Klarinette, ein Tubadings, Sax und Bass. Man erfuhr viel, manchmal fast zu viel (Nylonzähne und Staubsaugertattoo) über die wandelbare Welt der vier Königinnen. Danach war der Kunstschwamm im Kopf definitiv überfüllt! Überdosisgefahr gross.

Der Text ist schon viel zu lange, aber ein kurzes Fazit soll dennoch Platz haben. Denn das diesjährige Kunsthoch bestach schon im Vorfeld durch eine hochprofessionelle Organisation und Koordination. Der gemeinsame Aktionstag hat sich in den letzten Jahren zu einer festen Grösse entwickelt und mit dieser Ausgabe seine Berechtigung mehr als zu Recht manifestiert. Ein grosses Dankeschön geht dabei an die Projektkoordinatorin Eva-Maria Knüsel. Der Applaus im Schwimmbecken hätte noch 5 Minuten weitergehen sollen, oder die Leute hätten zumindest aufstehen können… Bis zum nächsten Mal…   *Performance von Christoph Studer-Harper. Verteilte an allen Standorten, auf den Eingangsschwellen, farbige Holzspäne. Von Hand bearbeitete Holzstäbe, die am Ende vor dem Neubad aufgereiht wurden.