Durch Mark und Bein

Südpol Kriens, 12.12.15: Lustmord und S S S S konzertieren im Südpol. Kräfte freisetzen, jenseits von Harmonie und Bekömmlichkeit!

Mit zur Begrüssung gehobener Hand betrat Brian Williams alias Lustmord die mit Subwoofern gesäumte Bühne und begann sein Konzert. Die Bässe brachten Schwingung in die Körper, die Schwingung erzeugte Wärme – ein Gefühl pränataler Einhüllung in die Weitläufigkeit des Klanges und die Undifferenziertheit einer erahnten Unendlichkeit. Auf der riesigen Leinwand hinter Brian Williams bauten sich Projektionen von Materialien in allen Aggregatszuständen auf und setzten ein düsteres Kopfkino in Gang. Szenarien, die das Menschsein auf eine ungewohnt kleine Dimension komprimierten. Williams, früher Industrial-Musiker und mit seinem Album «Heresy» (1990) Begründer des Dark Ambient, spielte gestern Abend in der grossen Halle des Südpols zwischen 21 – 22 Uhr ein durchgehendes, akustisch und physisch erlebbares Stück extrem basslastiger und von jeglichen perkussiven Geräuschen befreiter Klänge. Auf der Publikums-Tribüne sah man rund 50 Frauen und Männer zwischen 20 und 60 Jahren, viel schwarze Kleidung und Springerstiefel – eine heterogene Nischenklientel,  Kennerinnen und Kenner der Dark-Ambient-Musik, versammelt aus allen Teilen der Schweiz. So ergab sich ein einstündiger Trip einer ganzen Halle mitsamt ihrer metallischen Körperhaftigkeit und den ausgelieferten Insassen. Letztere: Besatzung eines Raumschiffs, Wanderer in Katakomben, Gleitsegler in den unendlichen, sich symmetrisch auftürmenden Nebeln von Lustmords audio-visuellem Kontinuum. Wer sich zeitweilen nicht mehr als Einheit fühlte, war wohl nicht alleine mit dieser Empfindung. Der grenzenlose Hall eines in den tiefsten Abgründen wuchtenden Basses verbog die Selbstwahrnehmung in ungeahnte Verkrümmungen, während die Körper – Säcke unserer molekularen Bestandteile – vor sich hinvibrierten. Lustmord – ein Beweisversuch schlummernder Kräfte, jenseits unserer Wahrnehmung. Von der Halle in den Club Um 23 Uhr begann die zweite Darbietung des Abends: Samuel Savenbergs (S S S S) konzertante Klanginstallation «Just Dead Stars For Dead Eyes». Beim Betreten des Raumes ertönten bloss periphere, vertraute Alltagsgeräusche, die sich mit den Stimmen des jungen Publikums vermischten. Dieser fragile Zustand und die Frage, mit was man es hier zu tun hat, erzeugten Spannung im Publikumsraum. Mit der allmählichen Verdichtung des Sounds ging eine Zerdehnung des Zeitempfindens in der Zuhörerschaft einher, welche sich dem Stück konzentriert hingab. Savenberg spielte sein Set-up auf einer Bühne, leicht erhöht hinter einer Wand aus verdunkeltem Acrylglas, welche zu Beginn wie ein Spiegel wirkte. Mit Dauer des Stücks, welches sich wie ein Massiv verfestigte, blitzten stroboskopische Lichter hinter dem vermeintlichen Spiegel auf, wodurch dieser als durchsichtige, jedoch reflektierende Scheibe zwischen Künstler und Publikum realisiert werden konnte. Die Lautstärke schwoll auf einen drastischen Pegel an und schwere, verzerrte Bässe dröhnten motorenähnlich von allen Seiten aus der Sound-Anlage und trugen entfremdete Stimmen und rhythmisches Zetern von Industrie-Geräuschen durch den Raum. Die zeitweilig starken Kontraste von sich abwechselndem White Noise und Bass-Punch machten die extreme Dichte der Bässe noch stärker spürbar. S S S S nahm den Gästen durch die im Raum verteilten Lautsprecher und durch den Spiegel jegliche Ausweichmöglichkeit und erreichte eine grösstmögliche Konfrontation zwischen Sound und Publikum. Der transparente Spiegel machte den Schalldruck der Bässe zudem als materielle Bewegungen sichtbar, indem er jede darauf reflektierende Lichtquelle im hektischen Rhythmus der Bassfrequenzen tanzen liess. Unter grossem Applaus ging die Uraufführung von «Just Dead Stars For Dead Eyes» nach einer Stunde zu Ende. Ein kurzer Ausschnitt (Stereo) der Komposition, der im Vorfeld der Uraufführung bereits veröffentlicht wurde. JUST DEAD STARS FOR DEAD EYES Im Anschluss spielte das Duo Heith aus Mailand, welches dem Abend die fast vergessenen perkussiven Momente in Form düsterer, maschineller Grooves zurückgab – eingebettet in abermals sagenhaft fette Bässe.