Willisau in a nutshell? Nein, besser! – Veto Records im Südpol

Seit zwei Jahren betreibt Christoph Erb sein Jazzlabel Veto Records. Zur Feier des Jubiläums liess er seine MusikerInnen im Südpol antreten. Pirelli ging hin – und war hin und weg.

Nun hat ja Jazz nicht den besten Ruf, allzu lange verband man den Begriff mit muffigen Altherrenklubs, intellektualisierenden Jungspunden an der Hochschule, Latzhosen und Wollkappen tragenden Berner Seklehrern in Willisau. Von der Jazzpolizei (ausgesprochen: Tschääääspolizei) ganz zu schweigen, jener Fraktion älterer Gestrenger also, die den Heiligen Gral erwarten, jeden Begeisterungslaut aus dem Publikum mit bösem Zischen quittieren und überfordert sind, wenn das klassische Muster «Thema – Solo 1 – Solo 2 – Solo 3 – Thema – Schluss» transzendiert wird. Ich konnte mich also einer gewissen Skepsis nicht erwehren, als ich in den Südpol pilgerte, wo Christoph Erb das Zwei-Jahre-Jubiläum seines Labels Veto Records feierte. Doch erstens kommt immer alles anders und zweitens als man denkt. Der Beginn wäre auf 17 Uhr angesetzt gewesen, ich konnte erst zwei Stunden später da sein und habe deshalb BigVeto und Flo Stoffner verpasst, dies vorweg. Als ich ankam, war der Südpol bereits gut besucht, das Publikum war angenehm durchmischt, keine Jazzpolizei da, uff!, die Stimmung auffallend aufgeräumt bis ausgelassen, Gabor Kantor und Marc Unternährer bemannten gewohnt charmant den CD-Stand – sieben CDs hat der unermüdliche Erb bereits herausgegeben, in nur zwei Jahren! Man kann alle sieben übrigens in einer schönen Box erwerben, zu sehr günstigen Konditionen. Knapp Zeit für ein Bier, dann wurde zum nächsten Konzert gebeten: Müküs.

Die junge Formation (Lionel Gafner, b, comp.; Lucien Dubuis, bcl; Morgan Galley, voc; Jonas Kocher, elec.; Vincent Membrez, keys; Simon Rupp, git; Fred Bürki, dr) spielt klar festgelegte Kompostionen, in nicht ganz üblicher Instrumientierung: Da steht eine Kontrabassklarinette auf der Bühne, ein Minimoog hat seinen Platz genauso wie moderne Electronics, und der Gitarrist spielt eine Danelectro Baritone (um eine Quinte tiefer gestimmt als die die übliche Gitarre) über einen Vox AC 30. Wer den Twang der Baritongitarre kennt, freute sich über diese Kombination, allein, da waren zu viele Truckli involviert, man hörte wenig vom eigentlichen Klang des Instruments. Mir schwante Schlimmes, aber es sollte die einzige Effekt-Überdosis des Abends bleiben. Die Kompositionen von Müküs sind interessant, Pop kreuzt sich mit Heavy-Metal-Elementen, dazwischen seltene Noise-Momente, über allem die klare Stimme von Morgan Galley, die aber sehr schön in den Gesamtklang eingebettet ist und somit als gleichberechtigtes Instrument wirkt. Nun waren die Kompositionen wie gesagt interessant und abwechslungsreich, aber es wollte sich die Fusswippundheadbang-Glückseligkeit nicht so recht einstellen – lags daran, dass es noch reichlich früh am Abend war? Dass alle sassen im Publikum? Dass die Kompositionen halt etwas streng arrangiert waren? Wer weiss. Hörenswert wars allemal, nur schon die Kombination von zeitgemässen Electronics und klassischem 70er-Jahre-Moog-Geheul liess frischen Wind durch die Grosse Halle wehen. Und es hat gut getönt: Soundmässig ist der Südpol sehr schön ausgestattet, er ist akustisch die zurzeit beste Venue der Stadt. Nach verblüffend kurzer Umbaupause betrat das Lausanner KiKu Trio die Bühne. Die Musiker um den extrem bebarteten Pianisten Malcolm Braff (Yannick Barmann, tp; Cyrill Regamey, dr) spielen Free Jazz, wie er klassischer nicht sein könnte, man hätte einen schwarzen Rollkragenpullover und in der Jacketttasche Ginsberg oder Kerouac tragen wollen. Das ist nun mein Ding eher nicht, aber der Verzicht auf jegliche Effekte – auch das Drumset war sehr reduziert, einzig Fellschlegel wichen etwas von dieser Reduktion ab – machte das Konzert zu einem intensiven, spannenden Hörerlebnis.

Es ist immer wieder erfreulich, wenn nicht die Elektronik die Musik bestimmt, sondern die – in diesem Fall beachtliche – Fingerfertigkeit und Virtuosität der Musiker. Barmann verwendete nicht einmal Dämpfer für seine Trompete, entlockte ihr aber Klangregister, die ich so noch nie gehört habe. Das Publikum kam rasch in den schön nostalgischen Jazzmodus, wo man nach jedem Solo applaudiert und die Musiker bisweilen auch anfeuert. Einziger Wermutstropfen: Der Flügel war etwas bescheiden abgenommen, sprich, ein separates Mikrofon über den Bassoktaven hätte das Erlebnis befördert, schliesslich verzichtete das Trio sonst auf ein Bassinstrument. Vielleicht wars aber auch Absicht: Als der Free Jazz in den 60ern seine Hochblüte feierte, klangs auch nicht fetter. Trotzdem hätte die Konzession an heutige Hörgewohnheiten gut getan. Barmann setzte sich während der Klavier- und Drumsolos auf den Boden, das liess einem bewusst werden, wie gross und luftig der Bühnenraum ist, und gab den Blick frei für die dezente, aber schöne Einrichtung: Die Lichtregie war sparsam, einzig weisse und gelbe Spots beleuchteten die Bühne, sie waren aber zu klaren Inseln gruppiert, das sorgte für viel Abwechslung. Auch der schwere Samt-Backdrop-Vorhang konnte mit Licht geflutet werden, mal war er nicht zu sehen, mal leuchtete er sanft und weinrot, dann wieder war er unter den gelben Spots knallig orange. Sehr geschmackvoll, Kompliment an die Technik an dieser Stelle. Nun zum Vera Kappeler Trio. Von Christoph Erb wurde es als «bestes Pferd im Stall» angekündigt, ich hatte ob des etwas altväterlichen Namens so meine Zweifel. Das Konzert wurde dann aber zum ersten grossen Highlight, ich war hin und weg. Es handelt sich um ein wunderbar eingespieltes Trio (Vera Kappeler, p, Harmonium; Simon Gerber, b, Dobro; Lionel Friedli, dr) in klassischer Besetzung. Und es fing klassisch an; das übliche, bereits oben angesprochene Jazzdings mit Themaexposition, Solos, Thema wurde aber schon beim ersten Stück ironisch gebrochen, und von da an entwickelten die MusikerInnen eine Spielfreude, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.

Dazu hat auch der Sound beigtragen, die Bassschwäche bei KiKu war diesbezüglich der einzige Ausrutscher. Auch hier wurde auf den Einsatz von Elektronik weitgehend verzichtet, durch die Instrumentierung und die Spielweise wurde dennoch eine sehr breite Klangvielfalt erreicht. So hatte Kappeler vor sich auf dem Flügel eine Art Babyxylofonklavier stehen, das im zweiten Stück, einem alten Volkslied, den Pianoklang sehr schön kontrastierte. Überhaupt war die Musik äusserst humorvoll, die dritte Nummer zum Beispiel begann in typischem Moll-Blues-Lingo, der Blues wurde aber dekonstruiert, also in seine Einzelteile zerlegt, die einzelnen Elemente einer sorgsamen Analyse unterzogen, zärtlich neu zusammengesetzt, mit schön eingesetzten Monk-Anklängen versehen und als neues Ganzes wieder in den Raum gestellt. Das war so liebevoll wie innovativ, ich werde mir die aktuelle CD, «Nach Slingia», sicher besorgen. Dekonstruktion blieb Thema, Bass und Schlagzeug legten zum Beispiel brachialen Swing vor, den Kappeler mit ihrer sparsamen Spielweise wieder aufbrach und behutsam in sehr Zeitgemässes wandelte. Dann wieder ein unerwarteter Wechsel, das Piano wurde gegen ein kleines Harmonium und der Bass gegen die Slide-Dobro getauscht, zusammen mit dem Schlagzeuger, der nur noch auf einer Glocke spielte, entführte die Combo das Publikum in eine Art Westernprärie, die aber so gar nichts mit Country zu tun hatte. Ein rundum gelungener Auftritt, man darf sich auf die Weiterentwicklung dieser Truppe freuen. Und nun zu etwas ganz anderem, wenngleich Dekonstruktion auch hier Konzept war: Martin Baumgartners Spielhuus. Die Grossformation mit zwölf Musikern (so ich richtig gezählt habe, auf der CD, die an diesem Abend getauft wurde, sind sogar vierzehn Leute aufgeführt) praktiziert spontane Livekomposition, und zwar wie folgt: «Prompter» Baumgartner steht vor den im Halbkreis aufgestellten Musikern und gibt durch abgesprochene Handzeichen und einen mit Buchstaben versehenen Würfel vor, wer gerade mit wem welches Thema zu spielen hat.

Das tut er aber sehr sparsam, denn jeder der Musiker kann sich durch die Handzeichen mit jedem anderen verständigen und so eine Subformation bilden – oder auch nicht, wenn der andere grad keine Lust hat dazu. Also gibt es wilde Tutti-Ritte, gefolgt von sinnlichem Kontrabass und grellen Gitarreneinwürfen (Doran spielt eine Duesenberg Starplayer! Silbrig glitzernd! – Was natürlich nur insofern von Belang ist, als ich selber eine Duesenberg Carl Carlton mein Eigen nenne), während sich im Hintergrund ein Trio mit Bruno Amstadl und den beiden Bassklarinetten anbahnt – selten so gelacht! Das Spielhuus trägt den Namen zu Recht, das Resultat ist wild, frech, lustig und äusserst unterhaltsam. Und man kann es durchaus auch auf CD hören, sie liefert mir gerade den Soundtrack. Den Abschluss des Konzertreigens bildete Scope (Hans-Peter Pfammatter, keys, comp; Lucien Dubuis, bcl; Urban Lienert, b; Lionel Friedli, dr). Mir dröhnte der Kopf schon vor Musik, Euphorie und Alkohol – und das fand seine Entsprechung auf der Bühne. Mit grösster Spielfreude und hoch konzentriert liess das Quartett sphärische Fusionklänge zu lautem Noise wachsen, doch kaum hatte man sich daran gewöhnt, trieb einen das Schlagzeug zum nächsten Beat, zum nächsten Stil. Die Musiker bedienten sich gekonnt aus der ganzen Trickkiste des zeitgenössischen Jazz, wechselten mit virtuosester Leichtigkeit von Lingo zu Lingo, und das mitten im Stück, ohne dass man des Wechsels erst überhaupt gewahr wurde.

Klare Kompositionen, aber mit ausreichendem Noise-Anteil – eine grosse Freude zum Zuhören; auch diese CD, «Nu-Gara», ist wärmstens zum Kauf empfohlen. Zum Abschluss des Abends versammelte man sich wieder in der Shedhalle, die DJ Cembalo Sunshine verblüffend unjazzig beschallte, das war in sich eine Wohltat, es half den erschöpften Ohren. Alles in allem also ein wirklich grosser Abend, der einen wunderbaren Querschnitt durch das zeitgenössische Jazzschaffen bot, immer fordernd und doch immer auch unterhaltsam und spannend. Ganz grosses Kino! Wir wünschen dem Label eine lange, erfolgreiche Zukunft.