Zurück in die Zukunft

Museum im Bellpark, 06.04.2014: Die chinesische Wirtschaft wächst ungebremst. Die Folge ist ein gewaltiger Bauboom, welcher wiederum zur Zerstörung von Altem führt. Ein chinesischer Reisverkäufer hält seit über 40 Jahren den Wandel in Schwarzweiss-Fotografie fest. Eine Auswahl seiner Bilder sind nun zum ersten Mal ausserhalb Chinas zu sehen.

(Bild: Brücke an der Changshou Strasse, ca. 1978, Photo Xu Xixian)

Das ehemalige Eingangstor eines alten Dorfes steht vor einem Bahngleis. Das Tor wirkt verlottert, verloren und deplatziert. Früher einmal war es der prunkvolle Eingang eines Stadtteils in Schanghai. Nun ist es bloss noch ein Überbleibsel aus vergangener Zeit. Das alles ist auf einem von 250 Fotos im Museum im Bellpark in Kriens zu sehen. Es sind die Bilder von Herrn Xu, dem Reisverkäufer aus Schanghai. Der 72-Jährige hält seit den 1960er Jahren  den landschaftlichen Wandel in Schanghai fotografisch fest. Herr Xu ist kein professioneller Fotograf und verdient keinen Rappen mit seinen Bildern. Das Dokumentieren seiner Lebenswelt ist sein Hobby oder wohl eher sein Lebenswerk. Denn mittlerweile hat Xu Xixian nach eigenen Angaben über 40'000 Bilder von Schanghai geschossen. Doch Herr Xu ist nicht nur Fotograf, sondern auch Ethnologe und Archivar. Denn Xu nimmt auf seinen Spaziergängen durch Schanghai auch Notizbücher und selbstgezeichnete Stadtpläne mit. Er notiert sich Beobachtungen und hält Eindrücke über Menschen fest. So entstand über die Jahre ein einzigartiges und umfassendes Archiv. Die Bilder von Herrn Xu zeigen, wie schnell Schanghai gewachsen ist. Skylines wurden aus dem Nichts in den Himmel gezogen, alte Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Denn immer mehr Menschen wohnen in der östlich gelegenen Industriestadt Chinas. Mittlerweile leben (je nach Zählweise) rund 25 Millionen Menschen in Schanghai, trotzdem reicht die Wohnfläche bloss für 9 Quadratmeter pro Person (zum Vergleich: in der Schweiz ist das Fünffache normal). Darum ist es auch klar, in welche Richtung es mit der Entwicklung in Schanghai geht: Nur vorwärts. Immer schneller, immer grösser. Niemand schaut zurück, die Vergangenheit spielt keine Rolle. Nur die Zukunft zählt. Dementsprechend sind auch die Bilder von Herr Xu für die Chinesen nicht interessant. Zumindest im Moment nicht.  Das Tempo der enormen Entwicklung wird in Schanghai kaum hinterfragt. In seiner Heimatstadt konnte Xu zwar schon einige Bilder ausstellen, aber es waren nur Fotografien des neuen, modernen Zentrums der Stadt. Dort sind die Hochhäuser, die Glastürme und die Flanierufer am Flusse Huangpu. Was in Schanghais Peripherie geschieht, scheint nicht relevant zu sein. Doch die Dokumente von Herrn Xu zeigen ein Gesamtbild der Millionenstadt. Sie zeigen verlassene Landstreifen, Bauruinen, Tempel oder Bäume, sei dies im Stadtzentrum oder in der Agglomeration. Immer wieder reiste Herr Xu zu den gleichen Orten. So entstehen Vorher/Nachher-Vergleiche, welche zur Reflexion über das rasante Wachstum anregen. Herr Xu dokumentiert ohne Wertung, wie sich seine Umwelt verändert. Es sind Momentaufnahmen, welche nur aus reiner Bildkraft einen logischen Schluss zulassen: Wow, so sah das also einmal aus. Die Bilder geben eine Verschnaufpause und lassen den (rasenden) Lauf der Zeit aus einer distanzierten Perspektive beobachten. Und genau das macht die Ausstellung «Die Reise des Herrn Xu» zu einer erstklassigen Fotoausstellung. Zugegeben, die Qualität der Bilder ist nicht grandios. Man sieht, dass Herr Xu seine Bilder in seiner selbstgebauten Dunkelkammer entwickelt hat und dass er höchstens einen Grundkurs in Fotografie besucht hat. Das schmälert aber nicht die Stärke der Bildkraft und die Einzigartigkeit der Fotografien. Die Bilder von Xu sind zum ersten Mal in dieser Form in Europa ausgestellt. Gleich hier, bei dir um die Ecke, im Museum im Bellpark in Kriens.