Wie Phoenix aus der Asche – Schuld und Sühne am Luzerner Theater

Man mag vom modernen Theater halten, was man will, aber ein stupendes Gesamtwerk wie dieses wird nur in einem arbeitsteiligen Rahmen ermöglicht. Es setzt eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Verantwortlichen voraus, um am Schluss ein so stimmiges Gesamtkonzept wie bei «Schuld und Sühne» am Luzerner Theater zu erzeugen. Hier greifen in idealer Weise die einzelnen künstlerischen Bereiche wie in einem Räderwerk ineinander.

(Bilder Toni Suter/zvg)

Man könnte den Fokus auf das Kontroverse richten. (Wieso beispielsweise wurde mit der alten Übersetzung «Schuld und Sühne» geliebäugelt? Wieso nur wurde im Schauspiel der Epilog des Romans – gleichsam einem Herzen – rausgerissen? Wieso beginnt und endet das Schauspiel mit der gleichen Bühnensituation?) Doch für einmal überwiegt das Positive so sehr, dass man die kleinen «Fehler» leicht beseite lassen kann. Gestern war denn Premiere. Bernd Isele (Dramaturgie) hat in der Einführung angedeutet, dass die Version von Swetlana Geier mit dem Titel «Verbrechen und Strafe» offenbar mit einem gewissen Risiko behaftet war, da diese alleine auf weiter Flur steht. Das heisst, rein nominal gesehen, ca. 16 anderen deutschen Übersetzungen des Jahrhundertromans mit «Schuld und Sühne» gegenübersteht. So what? Die Qualität der neusten ins Deutsche übertragene Übersetzung ist unbestritten und wird weitherum als die genauste und authentischste (meint nicht artifiziell verbrämt) Übersetzung angesehen. So hat man sich denn glücklicherweise für die von Geier ins Deutsche gesetzte Version entschieden. Nun gut, das etwas verwirrliche Theaterplakat, welches allenthalben in der Stadt Luzern hängt, hat den Vorteil, dass nun auch dem Hinterletzten bekannt ist, dass es mehrere Übersetzungen gibt und dass insbesondere die Übersetzung von Romanen nicht eine exakte Wissenschaft ist. Soweit so gut. Und da sind wird nun: beim Roman. Ein Monumentalwerk der Literatur, das in der deutschen Übersetzung von Swetlana Geier mit über 700 Seiten zu Buche schlägt. Verfasst vom russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski, einem Menschen, der einiges mit dem Protagonisten des Werkes, Raskolnikow, gemeinsam hat: Auch er war mittellos, war gar dem Glücksspiel zugetan, lebte in St. Petersburg und wurde zu acht Jahren Sibirien verurteilt. Die Parallelen zwischen dem Autor und seiner Romanfigur sind denn auch unübersehbar.

Das Fortwirken Dostojewskis auf andere Intellektuelle ist unbestritten (namentlich auf die Existenzialisten Sartre und Camus). Auch Nietzsches Übermensch klingt im Lichte von Raskolnikows Anschauungen wohlvertraut. Im Wesentlichen sind es denn auch die Ideen von Raskolnikow und das darin mündende Verbrechen, die die Grundlage des Romans bzw. Schauspiels ausmachen. Um es kurz zu halten: Raskolnikow ist überzeugt, dass sich die Menschheit in zwei Klassen teilen lässt, nämlich in die gewöhnlichen und die aussergewöhnlichen Menschen. Während sich der gewöhnliche Mensch der allgemeinen Gesetzgebung unterwirft und im Falle eines Verbrechens seine Strafe gehorsam verbüsst, setzt sich der aussergewöhnliche Mensch über derlei Regeln hinweg. Und so kommt es, dass der arme Student Raskolnikow geblendet von seiner Ideologie des Übermenschen die Pfandleiherin Aljona Iwanowna und ihre Halbschwester Lisaweta zur Strecke bringt. Was danach folgt, ist ein messerscharfes und beklemmendes Psychogramm eines gescheiterten Mörders. Der zwischen Wahnwitz und Fieber pendelnde und von Staatsanwalt Porfirij ins Geständnis «getragene» Raskolnikow findet endlich seine Erlösung und Auferstehung in der Liebe. Der Roman bedient sich über 25 Charakteren, um diese meisterliche Kriminalgeschichte voranzutreiben. Solch üppige Werke für die Bühne zu adaptieren, ist, gelinde gesagt, anspruchsvoll. Gilt es doch, den Charakter des Werkes zu finden und gleichzeitig in der Inszenierung eine persönliche Note zu hinterlassen. Ist die Vorlage so umfangreich wie bei «Verbrechen und Strafe», kommt das Erschwernis des gekonnten Weglassens noch hinzu: Es gilt die Balance zwischen Werktreue, Eigenheit und Verständnis zu wahren. Dies ist Barbara-David Brüesch (Inszenierung) und Bernd Isele kongenial gelungen! Mit perfekt geeichtem Kompass werden hier die wesentlichen Träger der Geschichte – die Essenz – auf die Bühne gebracht. Mag sein, dass der eine oder andere Auftritt in der Dauer zu viel Platz einnimmt, oder wie die Szene des  Leichenmahls schlicht verfehlt ist (Zugegeben, es wäre übertrieben für eine Szene Andrej Semjonowitsch einzuführen.). Die Schauspieler zeigen durchwegs eine gute Leistung, besonders Heiko Pinkowski (in mehreren Rollen). Christoph Gawenda ist als Raskolnikow beim Schreien mitunter fast nicht mehr zu verstehen. Auch die Toneffekte wirken manchmal etwas gar brachial bzw. unsensibel eingesetzt, wenn darin das Gesprochene untergeht ... Details, die bei den weiteren Aufführungen sicher ausgemerzt werden. Thomas Douglas, der auch in der «Der Gehülfe» am Luzerner Theater zu sehen war, spielt Porfirij Petrowitsch, den Staatsanwalt, der mangels Beweisen nur seine felsenfeste Vermutung gegen Raskalnikow ins Feld führen kann, da ihm seine Hände sprichwörtlich gebunden sind. Er kann «lediglich» sein gekonntes psychisches Verhör- und Verführungsspiel als Waffe einsetzen.

Etwas vom Vortrefflichsten ist aber die Bühnengestaltung (Damian Hitz): Ein Becken gefüllt mit knöchelhohem Wasser, darin mittig ein bronzener Monolith mit integrierter Türe. Die Szenerie wird flankiert von kiemenartigen horizontalen Schächten. In regelmässigen Abständen strömt Regen von der Decke. Beleuchtet wird von oben und aus den Schächten heraus. Die vom Wasser gespiegelten Scheinwerfer hinterlassen an der Decke und an der metallenen Oberfläche des Monolithen sphärisch irrational, flimmernde Bilder – gibt es ein adäquateres Mittel, um die Verworrenheit des Protagonisten auszudrücken? Wasser ist als solches auch eine instabile Tragfläche – ausser für Erlösergestalten wie Jesus. So wandelt denn der arme Student ohne festen Tritt und gehetzt von seinen fiebrigen Gedanken durchs Leben und macht sich des Guten zu viel klatschnass. Die Schauspieler tragen dementschprechend als Basic teilweise auch Neoprenanzüge. Die Kostüme (Heidi Walter) sind vorwiegend kalt und puristisch gehalten und bezwecken durch diesen Umstand, dass die Darsteller teilweise während des Spiel die Verkleidung wechseln, um dadurch einen anderen Charakter annehmen zu können. Dass der Epilog weggelassen wird, ist absolut verzeihbar, wenn nicht sogar ein gekonntes Mittel, um den Zuschauer zu animieren, über die vielschichtige Figur des Raskolnikows nachzudenken. Raskolnikow bedeutet denn im russischen «zerspalten», was am Anfang des Stück plastisch Ausdruck findet, dadurch dass die Hauptfigur durch mehrere teilweise dissonante Personen gespielt wird. Es ist zu hoffen, das Luzerner Theater setzt weiterhin auf solche hervorragende Theaterleute, ansonsten ist zu befürchten, dass Phoenix abstürzt.

Bis 9. Juni, Luzerner Theater