Schizophrenie im neo-klassischen Gewand

Südpol, 07.03.2014: Klassische Musik Menschen näherbringen. Dieser Aufgabe nimmt sich das Ensemble Lunaire an. Mit der Darbietung von Händels «Delirio Amoroso» wurde ein erster Schritt gemacht.

(Foto rechts: Christian Mattis)

Klassik und die jungen Menschen: Ein altbekanntes Problem. Zu altbacken und elitär wirkt die Musikrichtung. Diverse Akteure wollen diesen Umstand mit verschiedenen Angeboten aber ändern. Akteure, wie beispielsweise das Ensemble Lunaire. Zusammen mit dem Regisseur Christian Matthis entwickelten die sieben klassisch studierten MusikerInnen eine Inszenierung, die – laut Pressetext - ausgehend von der Musik Bilder entstehen lassen soll.

Delirio Amoroso – Harte Kost Kern der Vorstellung war das Stück «Delirio Amoroso» von Georg Friedrich Händel. Geschrieben wurde die Komposition zu dessen Italienzeiten Anfang 1700. Der geniale Musiker (und Opernunternehmer) wählte zwar die Form der Kantate, spielt aber mit mehreren Traditionen. Arie, Concerto und Suite vermischte er mit Elementen der von ihm geliebten Oper – wodurch das päpstliche Opernverbot umgangen wurde. Kurz: Szene, Tanz, Instrumentalkonzert in einem. Die Rahmenhandlung dreht sich um die Nymphe Clori. Deren Geliebter ist gestorben (ohne ihre Liebe zu erwidern – im Gegenteil) und muss aufgrund seiner Grausamkeiten in die Unterwelt zu Hades. Die liebestolle Furie will ihn von dort retten, verfängt sich jedoch in ihrer eigenen Schizophrenie und findet nicht mehr raus. Kein Happy End – Harte Kost. Liebeswahn ad absurdum.

Klassik gemischt Für die Besetzung des Ensemble Lunaire wurde das Stück neu arrangiert. Denn schon bei der Instrumentalsektion horcht Mensch auf. E-Bass, Synthesizer oder Rhodes im Mix mit Violoncello oder Soprangesang? Das klingt spannend, zeigt Offenheit sowie «Neo-Charakter». Gleichzeitig wurde nicht nur ein Werk präsentiert. Stücke aus Bereichen der Neuen (oder zeitgenössischen) Musik dienten dem Abend ebenfalls. Die Vorführung war dann ohnehin nicht «nur» Klang. Nein, Händels Einflüsse wurden deutlich mit eingearbeitet. Zwischen Tanz und Klang ist die Bezeichnung «Musikperformance» wohl am treffendsten gewählt: Die Musiker spielten ihre Instrumente, waren aber zugleich auch Tänzer und Schauspieler. Mit jener Vermischung verschiedener Elemente schält sich die Leitidee des Ensembles raus. So steht im Pressetext, dass sowohl Neue Musik sowie ältere, «klassisch klassische» Stücke präsentiert werden sollen – gerne in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, beispielsweise im Bereich Video oder Tanz. Lichtkonzepte plus Regie garantieren weitere Inputs. Einerseits bietet dieser Ansatz spannende Wechselwirkung sowie Konfrontation, erleichtert andererseits aber auch dem Publikum den Zugang. Was das eingangs erwähnte Ziel ist: (Junge) Menschen «wieder» für Klassik zu begeistern.

Grab it! Als Musiker und Journalist, der eher von der Jazz, World und Pop/Rock-Ecke kommt, war die Spannung natürlich gross. Würde ich gar nichts kapieren, wie bei der Uraufführung von Rodion Shchedrins «Romantic Offering» im KKL mit Martha Argerich und Mischa Maisky? Denkste! Aber der Reihe nach: So viele Leute drückten sich in den kleinen Saal des Südpols, dass zuerst noch neue Stühle geholt werden mussten. Platz genommen neben dem Lichtpult, wo der ganze Ablauf schon auf dem Laptop skizziert war. Zwischen Neuer und älterer Musik pendelnd spielten die Musiker wie schon weiter oben erwähnt zwischen Schauspiel sowie Musik. Viel Körpereinsatz, stimmungsvoll gelichtelt von Techniker Stefan Schauenburg. Instrumental war das natürlich eine Darbietung mit besten Wünschen von der klassischen Hochburg im Dreilinden. Gerade die Nuancen erschienen interessant. So liess die Sängerin nebst dem opernhaften Sopran-Gesang gerne ein wenig Pop durchblitzen. Oder der Micro Korg-Synthesizer sorgte für futuristische Einflüsse. Nicht zu vergessen die Bassquerflöte, welche fast so gross wie die darauf spielende Künstlerin war und dem Publikum einen Lacher entlockte. Solche Feinheiten liessen den Abend nie verkrampft oder anstrengend erscheinen, sondern lustvoll. Persönliches Highlight war die Darbietung des Stücks «Grab it!» des holländischen Komponisten Jacob ter Veldhuis (kurz Jacob TV). Ein Tenor-Saxophon-Solo über zusammengeschnittene Samples von Gefangenen. Das hatte Feuer, das hatte Groove (sic!), das hatte Power: Hervorragend. Der Kleiderwechsel – zuerst alle in schwarz, danach rot (für die Hölle) – unterstützte die tragische Geschichte von Clori und diente als weiteres audiovisuelles Element. Zusammengefasst ein gelungener Abend mit spannenden Vorträgen.  Trotzdem darf konstruktiv in die Zukunft geblickt werden: Wünschenswert wären mehr solcher Erlebnisse wie «Grab it!», welches die Linie zwischen populärer und klassischer Musik verschmelzen lässt. Das soll jedoch nicht Ausverkauf bedeuten, sondern Experiment. Mehr Synthesizer, mehr Slap-Bass, mehr unbekannte Instrumente. Aber klar, wir befinden uns bei der Premiere und wollen nichts überstürzen. Zuerst verstehen, dann weitergehen: Dieser Schritt hat funktioniert: Die Vorfreude auf neue Programme sowie Taten dieses Ensemble Lunaire sind geweckt. Licht aus. Applaus.