Phantastisches Panoptikum der Provinz

Auf Jon Fosses formal strenge und sprachlich spartanische Todesvariationen folgt das pure Gegenteil: Mit «Unter dem Milchwald» (Regie: Ursula Hildebrand) von Dylan Thomas spielt Theater Aeternam heuer im Südpol ein Stück, das frivoler, sinnlicher und üppiger kaum sein könnte. Star dabei ist die Sprache.

(Bilder: Elias Gmünder)

Im Programmheft steht der Hinweis: Das Stück spiele zum Teil in der Nacht. Die Inszenierung beginne darum während zwei Minuten in vollständiger Dunkelheit. Die Figuren haben sich bettfertig gemacht, das Licht ist runtergedreht, bloss die Notausgangsschilder und das Lichtpult glimmen im Dunkel. «Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfpflasterstrassen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See.» Stimmen, gesprochene Träume, Phantasien. Aus allen Richtungen. Ein Gesicht im Taschenlampenschein. Ein Seemann, der ertrinkt und mit Geistern aus der Vergangenheit konfrontiert wird. Dann wieder Dunkel, Stimmen. Irgendwann wirds Tag und der Priester Eli Jenkins (Wolfram Schneider-Lastin) besingt Gott und dessen allerallerbeste Kreation, Llareggub. Der walisische Schriftsteller Dylan Thomas – von dem sich Robert A. Zimmermann alias Bob Dylan seinen Nachnamen entlehnte – erzählt in seinem Hauptwerk nicht eine, sondern zig Geschichten. Szenen und Episoden, die alle aus einem immensen Mosaik gegriffen scheinen. Ausgehend vom fiktiven Ort Llareggub – für den die Kleinstadt Laugharne, wo Thomas seine letzten Jahre in ärmlichen Verhältnissen verlebte, als Vorbild herhielt – entwirft er ein Panoptikum der Provinz. Sprachlich brillant, liebevoll spöttisch, mit einem verdammt guten Auge für Details und mit einem permanenten sinnlich-erotischen Unterton, ohne je vulgär zu werden.

So schlüpfen denn auch alle sieben Schauspieler in verschiedene der über dreissig Rollen im Stück. Da ist beispielsweise Polly Garter (Carmen Keiser) Mutter, Putze und leichtes Mädchen des Dorfes, da ist der Tuchhändler Mog Edwards (Neuzugang, Jungtalent: Mathias Ott), der Geld mag und schwärmerische Liebesbriefe schreibt, der skurrile Arzt, Barbier und Kaninchenfänger Mr. Waldo (Christoph Fellmann), Myfanwy Price (Franziska Bachmann Pfister), die Süsswarenhändlerin, die sich was besonders Süsses wünscht, der blinde Kapitän Cat (Marco Sieber), der von seiner einzigen Liebe, die er mit anderen Seemännern teilte, heimgesucht wird oder die Hoteliere mit dem Sauberkeitsfimmel, Mrs. Ogmore-Pritchard (Rita Zimmerli). Vor einem schwebenden bläulichem Halbkreis (Bühnenbild: Urs Hochuli) aufgereiht liegen ihre Home-Bases, runde weisse Dinger, die das jeweilige traute Heim symbolisieren, wo sich die Leben der Figuren zum grossen Teil abspielen. Jeder kennt jeden. Jeder redet über jeden. Zwischendurch wirds gar musikalisch: die Schauspieler singen und performen vom Pianist Peter Estermann (Kubus, Die Absenten) komponierte Musik zu Thomas' Songtexten, was sich stets gut ins Stück einfügt, nie musicalhaft oder aufgesetzt wirkt. Und von der einen oder anderen Stimme ist man gar sehr beeindruckt. Auch als Mr. Waldo gegen Ende dem Publikum den punkigen Schlussong entgegenschmettert, der mit den Zeilen endet: «Komm und feg meinen Schornstein! / Komm und feg meinen Schornstein! / Dein Besen, der tut mir not!» Yeah! That's bloody Rock'n'Roll! Explosiv-ekstatische Poesie, gut gespielt von einem hervorragenden Ensemble.

Weitere Spieldaten: MI 20., DO 21., SA 23. April, FR 6., SA 7., SO 8., DI 10., MI 11. Mai, jeweils 20 Uhr, Südpol Luzern