Panik manipuliert Ordnung, bevor der Rabenkönig ein wenig Angst und Schrecken verbreitet

Südpol Kriens, 23.1.2014: Das neue Jahr im Südpol erreicht einen ersten Zenit: Für ein abwechslungsreiches Abendprogramm aus (Theater-)Performance und Sound(-Performance) pilgern zahlreiche Gäste in die Luzerner Peripherie. Verantwortliche Abendgestalter: Theaterkollektiv ultra und The Dead Brothers.

Zwar kann man immer noch nicht mit dem Fahrrad die alten Geleise vom Bahnhof Luzern in Richtung Südpol tuckern, doch der 14er Bus erweist sich im Winter als gemütliche Alternative. Knapp eingetroffen, 20:01 Uhr, steht erfreulicherweise eine riesige Menge Menschen im Eingangsbereich. Alle mit demselben Ziel: die neue als Performance angekündigte Theaterproduktion von ultra, «Panik», zu besuchen. Man gibt sich in der Vorbeschreibung mysteriös und vage. «Du wirst nicht mehr wissen, wer ich bin – eine Erinnerung im Voraus» heisst es als Zusatz im Titel der Produktion und dies avanciert durchaus zum Leitmotiv des Abends. Im Zentrum steht die fiktive (oder vielleicht auch reale) Biografie von Alice Bollier-Plüss, Jahrgang 1928. Nach einer Y.M.C.A.-Minichoreografie mit Zahlenabfolge rezitieren drei Protagonisten autobiografische Versatzstücke ihrer individuellen Beziehung zu Alice. Orpheo Carcano erzählt auf Italienisch von Alices Vergangenheit als Apothekerin, Thomas Köppel äussert sich zu Alices Lieblingsspielen und Nina Langensand thematisiert Alices Faible für Heilsteine. Das minimalistische Setting – es besteht aus verschiedenen Handlungsstationen wie einem Tisch mit Brettspiel und Topfpflanze, einem karierten Fussbodenabschnitt, Hellraumprojektor und Beamer, Mischpult mit Computer und einem Schlagzeug – wird von den drei Protagonisten durch systematische Eingriffe in Anspruch genommen. Teilweise werden die Handlungen, die sich mit der Reorganisation von vorgefassten Strukturen beschäftigen, mit mündlichen Erklärungen in erfrischendem Schweizerdeutsch vorgetragen. So wird beispielsweise die Monte-Carlo-Simulation oder die Markov-Kette visualisiert, mit Kreide an die Wand gezeichnet oder modellhaft erklärt und meist sofort auf ein Prinzip (oder ein Spiel) angewendet. Kombinatorische Wahrscheinlichkeiten beim Monopoly-Spiel werden ausgerechnet und der karierte Fussbodenabschnitt mit einer neuen Ordnung derangiert. Manie und Ausdauer erhalten eine besondere Beachtung und sind der permanenten Wiederholung ausgesetzt, ohne aber ein vorgefasstes Muster aufzuweisen. Dementsprechend leicht verwirrend, aber stets auf einem hohen Spannungsniveau, das nur selten der Langwierigkeit von Wiederholung ausgeliefert ist, präsentiert sich die Aufführung, sich stets zwischen Theater und Performance bewegend.

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Nach zwei Dritteln betritt tatsächlich der personifizierte Alzheimer in Form der 87-jährigen Alice die Bühne, um eine Partie Eile Mit Weile zu spielen und zu ihrer Lieblingsmusik zu tanzen. Doch Alice erinnert sich nicht an vergangene Zeiten, erinnert sich nicht an ihr Lieblingsmusikstück (oder doch?) und bekundet grösste Mühe im Spielverlauf von Eile mit Weile. Alice hat Alzheimer. Während die drei Performer abwechselnd mit Alice das Brettspiel bewürfeln, vollzieht sich auf der Bühne das gewohnte Spektakel an algorithmischer Wiederholung, Gehirntrainingsmethoden und nicht definierbaren Nonsens-Aufgaben. Die rund sechzigminütige Aufführung endete mit einem gemeinsamen Tanz zu sizilianischer Folklore und klassischem Walzer. Die Angst vom Vergessen verschwindet für einen Moment. Nichts für Leute mit Herzleiden oder Liebeskummer Noch war nicht aller Tage Abend, denn mit dem Auftritt des Rabenkönigs wurde das performative Abendprogramm auf Musik ausgeweitet. Aus dem meilenweit entfernten Genf marschierten die fünf Dead Brothers (teilweise mit Vogelmasken ausgestattet), angeführt von dem charismatischen, an Mephisto erinnernden Alain Croubalian, auf die Bühne des Südpol Clubs. Seit 1998 verschmilzt das selbsternannte Beerdigungsorchester diverse Stile wie Blues, Punk, Country und Chansons in mehrheitlich englischer, aber auch deutscher Sprache.

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Erzählt werden traurige, melancholische, bisweilen bösartige Geschichten und Anekdoten aus dunklen Parallelwelten menschlicher Abgründe. Sie singen von intriganten Liebschaften, eiskalten Herzen und dubiosen Machenschaften in der Unterwelt, jedoch stets mit einem tödlichen Augenzwinkern in Richtung Tod selbst. Oder sie besingen eine beschauliche Ode an das Städtchen Langenthal. Tuba, Mundharmonika, eine Vielzahl an Saiteninstrumenten, Flöten und Schlagzeug definieren den rudimentären, jedoch harmonisch auf einer Linie gleitenden Noir Folk, der mittels weniger Passagen auch auszubrechen vermag. Die Inszenierung der Musik und die Präsenz der Bandmitglieder (allen voran Alain Croubalian) auf der Bühne hält das Südpolpublikum gemässigt auf Trab. Als gegen Ende die Dead Brothers ihren marschierenden Abschied starteten, avancierte die Bartrese mehr oder weniger spontan zum erweiterten Bühnenraum. Und falls sie das nächste Mal nach Luzern kommen, sollte das Château Gütsch einen schwarzen Anstrich erhalten. Halleluja!

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