Lieber Damiàn Dlaboha – ist ein nackter Arsch Freiheit?

Neubad, 04.06.2015: «Fester!» Ein Theater nach Wedekinds «Frühlings Erwachen», gespielt von jungen Enthusiasten, unter der Regie von Damiàn Dlabhoha. Hier ein Brief an ihn.

Eingepackt Lieber Damiàn, ich wurde gefragt, ob es nicht schwierig sei, über das Stück eines Kollegen zu schreiben. Doch, ist es. Deswegen nun ein Brief – der gleich offen legt, dass wir uns kennen. Der persönlich sein darf, was eine Theaterkritik nicht unbedingt sein sollte. Sind alte Stücke noch relevant, heute? Natürlich. Das habt ihr bewiesen, als junges Laienteam, du als Student der ZHDK, die anderen als erfahrene Spieler. Das Stück habt ihr angepasst, in die heutige Welt transportiert, und so gezeigt, dass manche Themen immer relevant sind. Ach, die Jugend! Das Buch von Béla Rothenbühler schlachtet die moderne Jugendsprache aus, ist gespickt mit Wortwitz und in rasantem Tempo gehalten. Auch das Setting: Die Bühne ist mit Plastikbahnen behängt, die Technik hinter Plastik versteckt, die Requisiten eingepackt. Durchschimmernd, grau. Wie könnte es anders sein – Das Stück wird alles auspacken. Fassaden runterreissen, Gefühle entblössen, das Innere nach Aussen kehren. Grundsätzlich geht es bei eurer Adaption um ein Institut, in welches die Jugendlichen Martha, Wendla, Melchior, Moritz, Thea und Hans verwiesen wurden, um wieder gesellschaftstauglich zu werden. Begleitet wird dies von einem Berufsberater, der nur durch die Lautsprecher zu den Kids spricht und so omnipräsent und stets anonym bleibt. Er sieht alles. Er manipuliert, leitet, verführt. Es erinnert an moderne Shows wie Big Brother oder Dschungelcamp. Die Teilnehmer erfüllen Aufgaben und gehen daran zu Grunde. Sie sind gezwungen, sich gegenseitig zu bestrafen, moralische Dilemmas folgen im Minutentakt aufeinander.

Angepackt Ihr habt ans Licht gezerrt, was man zu der Jugend nur zeigen kann: Sex, Drogen, Partys, Freundschaft und Liebe. Gerade die stark symbollastige Sprache des Stückes hat in ihrer Abstraktheit das Entsetzen genährt: Die Wassermelone platzt, wie die Unschuld Wendlas. Die Nase wird zum Staubsauger. Rasant nähert ihr euch dem Abgrund, so rasant, dass man als Zuschauer fast aussen vor bleibt. Die Schauspieler, lieber Damiàn, das musst du ihnen sagen: Waren wirklich gut und überzeugend. Nina Britschgi als verführerische, kaputte Martha genauso wie Stefan Schönholzer als reine Naturgewalt und unbeherrschte Männlichkeit – die an ihrer eigenen Moral zu Grunde geht. Man kennt die Gesichter, sei es von Verona 3000 oder ecco RONDO, und man sieht sie gerne. Und doch, hat mir eins gefehlt, vielleicht kannst du es mir erklären: Ich hatte immer das Gefühl, in «Frühlings Erwachen» die Unschuld der Jugend zu sehen, das naive Suchen und Forschen, und diese Unschuld, die habe ich vermisst, sag, sind wir so verdorben heute? Oder so stark von der Gesellschaft beeinflusst, dass wir sie nicht bewahren können? Einer, der immer wieder einen Anflug von Unschuld zeigte, zerstörte sie schlussendlich selbst.

Ausgepackt Schlussendlich bleibt die Frage: Kann man ewig aktuelle Geschichten neu erzählen? Grundsätzlich habt ihr mich inhaltlich nicht sehr oft überrascht, ich habe zu fest vorhersehen können, was kommen wird. Aber ist das nicht normal, bei den uralten und doch neuen Themen? Dafür habt ihr eine Bühnensprache gefunden, eine Energie geschaffen und Bilder entworfen, welche mich immer wieder beschäftigen werden und mich stark ergriffen haben. Was ist Freiheit? Wir wissen es alle nicht, oder müssen es alle alleine herausfinden. Und ob mich die nackten Pos deiner männlichen Teamkollegen dieser Frage näher bringen werden? Ich glaube nicht, aber es gehört wohl zur Freiheit des Regisseurs, mir diese zu zeigen. Lieber Damiàn, ich komme zum Ende: Schön, dass dich Zürich nicht ganz für sich alleine beansprucht. Schön, dieses Stück mit und von Luzerner Talenten zu sehen, welche mich immer wieder stark beeindruckt haben.

Weitere Aufführungen im Neubad: Heute 05.06 und morgen 06.06. 2015.