Eine Offenbachiade des 20. Jahrhunderts

Das Luzerner Theater spielt die einaktige Oper «Satyricon» des italienischen Neutöners Bruno Maderna. Wunderbare Klänge, ästhetische Bilder, glanzvolle Gesangsnummern, schrillste Parodie und subtile humoristische Anspielung rauschen in einer guten Stunde am Zuschauer vorüber.

Wenn ein Heldentenor in der Rolle eines neureichen Geschäftsheinis mit seinen Business-Grosstaten prahlt, die ihm Millionen um Abermillionen eingebracht haben, und dazu das heroische Motiv des jungen Parsifal aus Richard Wagners gleichnamiger Oper ertönt, dann ist das reinster - ja: Jacques Offenbach. Das war's nun aber für diesmal am Luzerner Theater nicht, denn gezeigt wurde keine «opéra bouffe» des Pariser Parodisten, sondern der Einakter «Satyricon» des italienischen Avantgardekomponisten Bruno Maderna. Der lebenslange Satiriker und Satyriker Offenbach bemühte sich am Ende seines Lebens um die seriöse grosse Oper, der ernsthafte Neutöner Maderna fand zur Offenbachiade. 1973 kam das Stück heraus, und es war damals ein Schlag ins Gesicht der gestrengen Avantgarde. Maderna tut alles, was gemäss der seltsam faschistoiden und sich doch so antifaschistisch aufplusternden Aesthetik der Nachkriegszeit bis weit in die Siebziger Jahre hinein strengstens verpönt war: Er bedient sich skrupellos in der Musikgeschichte, schafft Stilparodien und Pseudozitate und plaziert ebenso schamlos wie witzig die kleineren und grösseren Hits des Klassikbetriebes, letzteres wohl auch, damit die Musikjournaille dann mittels der richtig identifizierten Zitate bei ihrer Leserschaft mit Herrschaftswissen brillieren kann, was auch geschehen ist, da jeder Schreiberling prompt den Triumphmarsch aus Verdis «Aida» erkannt hat. Viel von der auf den Musikbetrieb selber gemünzten Frechheit des Werks ist natürlich zusammen mit der Arroganz-Aesthetik der strengen Avantgarde inzwischen verdampft; geblieben ist ein ebenso klangschönes wie durchgedreht-lustiges, ebenso kurzweiliges wie nicht zu langes Stück des absurden bis grotesken Musiktheaters. Ein Musiktheater ohne kohärente Handlung: «Satyricon» basiert auf dem antiken (nicht spätantiken!) Schelmenroman des Titus Petronius, den Federico Fellini etwa zur selben Zeit auf vollkommen andere Weise verfilmt hat. Wir sehen bei Maderna eine coole Gesellschaft, etwas gelangweilt, nicht, weil sie zuviel Geld hat, wie der Sozialkritiker als solcher gerne mal mutmasst, der übersieht, dass die mittellose Bohème sich in allerlei illegalen oder legalen Bars genauso gelangweilt herumdrückt, wenn der Abend spät und der Alkohol noch nicht alle geworden ist, sondern wohl einfach deshalb, weil das Sich-Zusammenrotten und Reden ohne ein Thema zu haben, bei dem zu verweilen sich auch lohnt, halt einfach fade ist. Es lohnt sich deshalb auch nicht, sich mithilfe des Stücks irgendwie am Reizthema «Gesellschaftskritik» oder gar «Dekadenz» abzuarbeiten, denn die, die gerade mal eben unten sind, wollen ja auch nichts anderes als irgendmal nach oben kommen, um dann genau das zu tun, was die oben schon tun. Es ist dies der Kern des Sozialismus. Sicher: Möglicherweise meinte der Komponist sein Werk irgendwie «engagiert», aber das ist so zeittypisch Seventies und so was von vergangen wie etwa auch die sogenannt «aleatorische», also dem Zufall oder der Laune des Regisseurs überlassene Anordnung der insgesamt 30 Szenen des Einakters. Ueberlebt hat «Satyricon» wohl gerade deswegen, weil der Komponist sämtliche Phrasen, Zeitgeistwinde und Aesthetiken seiner Zeit immer auch gleich aufbricht und parodiert. Offenbach eben. Dabei schuf Bruno Maderna eine wirklich meisterliche Partitur, in welcher neben den Stilparodien und Zitaten berückende Ensembleklänge und faszinierende Tonbandmusiken stehen. Da gibt es ganz tolle Bläsersätze, namentlich für die tiefen Instrumente, und die Musiker des Luzerner Sinfonieorchester spielen hervorragend und bewegen sich offenbar ganz befreit und lustvoll in dieser ja gar nicht immer einfachen Musik. Dirigent Michael Wendeberg hat das Werk mit Liebe und Sorgfalt eingeübt. Lustvoll singen und agieren auch die Sängerinnen und Sänger, und der Spass an der Sache, den alle Beteiligten versprühen, dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass das nicht gerade primär abonnementspublikumstaugliche Werk so gut über die Rampe kommt. Der kraftvoll-heldische Tenor von Carlo Jung-Heyk Cho ist deshalb eine gelungene Parodie, weil er im Stil- und Handlungszusammenhang des Werks schon an sich herrlich deplaziert wirkt. Madelaine Wibom beweist zum wiederholten Mal, dass sie recht eigentlich eine Neigung und ein spezielles Talent zur neueren Musik hat, stimmlich wie darstellerisch in Rollen, die wie in diesem Fall sich mit dem eingefahrenen Repertoire an Gesten nicht bewältigen liessen. Carla Maffioletti, die Koloratursopranistin aus dem Lande der Yma Sumac singt offenbar mühelos die höchsten Töne, die wahrscheinlich je im Luzerner Theater erklungen sind und gibt damit eine brillante Parodie auf genau das, was sie ist: eine Koloratursopranistin. Zu raten wäre ihr allerdings, den Hinweis auf den Kotzgeiger André Rieu aus ihrer Bio zu streichen. Marie-Luise Dressen, Dana Marbach, Patrick Zielke und Todd Boyce ergänzen das Ensemble hervorragend. Ein «Bravissimi» gilt allen sieben. Keine Rollennamen? In der Tat: Man muss wahrscheinlich nicht wissen, was für späthellenistische Namen diese Figuren nun zufällig gerade tragen. Wahrscheinlich muss man auch nicht wissen, was sie da auf der Bühne gerade genau tun und warum. Schliesslich legt die aleatorische Gesamtform, die von Regisseur Johannes Pölzgutter hier in der Art des Abzählreims von den zehn kleinen Negerlein, wo eins ums andere verschwindet, realisiert wurde, auch nicht nahe, dass es um eine stringende Handlung gehen könnte. Pölzgutter inszeniert einen bizarren Bilderreigen, der oft den höheren Blödsinn Offenbachscher Bachanalien streift. Es ist halt so: Irgendetwas muss man erfinden, was die Figuren tun können, währenddem die Musik läuft und womöglich auch jemand dazu singt. In Frage kommen groteske Posen, kleine Interaktionen, schläfrige Marthalereien, eitle Selbstdarstellereien, running gags. Das ist alles prima, kompakt und mit Gefühl für timing und für die Musik gelöst.

Bruno Maderna: Satyricon, Inszenierung: Johannes Pölzgutter, Vorstellungen bis Mittwoch, 10. April, Luzerner Theater