Doch noch ist man da

Theater Pavillon, Luzern, 20.03.2019: Das Voralpentheater hat ein neues altes Ensemble. 14 Laien über 60 inszenieren als «Greyhounds» das Stück «Verschwinde» nach einem Text von Erwin Koch. Eine Bestandsaufnahme der Rolle der Alten in einer maximal beschleunigten Welt.

Bilder: Georgette Baumgartner

Vorromantische Stücke klassischer Musik werden heutzutage zu schnell gespielt. Man sollte die Tempi halbieren! Felsenfest ist Willy Habermacher davon überzeugt. Der passionierte Musiker und Ex-Posthalter ist die Hauptfigur des Stücks «Verschwinde» des Ü60-Ensembles «Greyhounds», das am Mittwoch im Theater Pavillon Premiere feierte. Willys «Halbierungsthese» treibt den 70-Jährigen um. Per eingeschriebenen Brief informiert er gar den Chefdirigenten des Luzerner Sinfonieorchesters, James Gaffigan, über seine Ansicht.

Selbst vor der klassischen Musik macht die Beschleunigung unserer Zeit also keinen Halt. Ein Sinnbild für den allgegenwärtigen Effizienzgedanken, der Willy Habermacher schon um seinen Job als Posthalter gebracht hatte. Ausgerechnet im KKL sei ihm von Post-Verantwortlichen erklärt worden: «Erfolg hat, wer nicht länger tut, was nichts bringt.»

Greyhounds im Voralpentheater

Diese und weitere Episoden aus Willy Habermachers fiktivem Leben inszenierte Regisseur Reto Ambauen für «Verschwinde». Das Stück basiert auf der Erzählung «Vom Verschwinden» vom  Schweizer Journalisten und Schriftsteller Erwin Koch. Das Motiv der zu schnell gespielten Klassik ist ein wiederkehrendes. Man kommt nicht darum herum, an Kochs Erfolgsroman «Sara tanzt» erinnert zu werden.

«Vom Verschwinden» ist aber bei Weitem kein Roman. Gerade einmal 16 Seiten kurz ist sie. Aufgeführt füllt der Stoff 60 Minuten. Aus der Ich-Perspektive erzählt darin Protagonist Willy Habermacher aus seinem 70-jährigen Leben. Von seiner Mutter, die ihm als Kind zu sagen pflegte, er habe «die schönsten Öhrchen von allen». Von seiner Ehefrau, die er als 50-Jähriger zu Hause pflegte, bis sie an Krebs verstarb. Und immer wieder von der Gegenwart, in der Willy Habermacher seinen Brief an James Gaffigan verfasst.

Schon die Erzählung verläuft nicht chronologisch, doch für die Bühne wurde sie noch weiter zerhackt, durcheinandergewirbelt, ergänzt, und neu zusammengesetzt. Details aus den verschiedenen Episoden sind immer wieder zu erkennen, mitten in Passagen, die nichts mit diesen Details zu tun haben.

Zwar nimmt Willy Habermacher die zentrale Rolle ein, doch werden seine Geschichten im Stück von seinen Bekannten erzählt. 14 Schauspieler*innen stehen auf der Bühne und teilen den Text unter sich auf. Einige kommen nur sporadisch zu Wort, was sie zuweilen zu Statisten degradiert. Umso besser kommt das grosse Ensemble aber zur Geltung, wenn es einen mehrstimmigen Chor anstimmt, oder eine traurig-schöne Polonaise anzettelt.

Die Gestaltung der Dialoge erinnert an Gespräche mit den Grosseltern. Aus dem Langzeitgedächtnis werden die alten Anekdoten gefischt, Entgegnungen werden ignoriert, und Themen unvermittelt gewechselt. Zuweilen klauen sich Figuren dabei gegenseitig den Fokus, einige Sätze gehen unter. Gutes Zuhören ist gefragt – wie beim Schwatz mit dem Grosi eben.

Doch so viel wird im Stück klar: In einer Welt, die schneller dreht als je zuvor, ist das Bild von den alten Menschen, die nur noch von früher erzählen, kein vorteilhaftes. «Die Alten» – sie sind nicht mehr gefragt. James Gaffigan schreibt Willy Habermacher nicht zurück, Willy schickt den zweiten Brief nie ab. Er hat aufgehört, zu tun, was nichts bringt. Vielleicht die letzte Konsequenz der Effizienzlogik. Vielleicht einfach Altersweisheit.

Greyhounds: Verschwinde
Mi 20., FR 22., SA 23., MI 27., FR 29., jeweils 20 Uhr, SO 24. und SA 30., ab 10 Uhr, anschliessend Diskussionsrunde.
Theater Pavillon, Luzern

Nach der Erzählung «Vom Verschwinden» von Erwin Koch.

Spiel: «Greyhounds» mit Erika Achermann, Ruth Arnold, Mariann Bahr, Claire Brunner, Guido Dillier, Kathy Disler, Rita Duss-Huwiler, Annelis Gerber, Ivo Graf, Gertrud Hofer, Gregor Kaufmann, Fred Le Grand, Bernadette Lechmann, Albert Müller

Inszenierung: Reto Ambauen; Dramaturgie: Christoph Fellmann; Dramaturgische Mitarbeit: Elsbet Saurer; Ausstattung: Bernadette Meier; Lichtdesign: Bruno Gisler

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