Das Orchester der Freunde in Wien

Wien/Musikverein, 16.11.2015: Das Lucerne Festival Orchestra beendete gestern seine Europatournee. Andris Nelsons und den Musikern gelangen sowohl für Mozarts Linzer sowie Mahlers fünfte Sinfonie Interpretationen, die mal spannend wie ein Krimi und mal leichtfüssig wie eine Weihnachtskomödie daherkamen.

Ein regnerischer Sonntagmorgen in Wien, die U-Bahn voll mit Sonntagsausflüglern. Am Karlsplatz bläst ein giftiger Wind, im Entrée des Musikvereins drängen sich die Regenschirme und Trenchcoats der Konzertbesucher um überaus effiziente Garderobiers. In den Foyers einen Stock höher trifft man sich noch rasch auf einen Verlängerten, einen kleinen Braunen oder gleich einen Sekt, plaudert umgeben von Stein gewordenen Komponistenfiguren, bis ein lautes Surren dazu gemahnt, die Plätze aufzusuchen. Im prunkvollen grossen Saal geht es noch einige Minuten weiter mit den Bussis und Servus-Rufen, bis die Musiker des Lucerne Festival Orchestra die Bühne betreten und sich unter den Zuschauern gespannte Erwartung breitmacht.

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Mit Mozarts Linzer Sinfonie wurde das Konzert eröffnet. Mozarts Musik passt naturgemäss ganz ausgezeichnet nach Wien und in einen goldenen Konzertsaal. Andris Nelsons gestaltete die vier Sätze quasi als Klangarchitekt. Seine Gesten deuteten nicht selten Ebenen, ja Stockwerke an, waren mal gross, mal klein und verhalten und so baute er ein Klanggebäude, das frisch, mehrdimensional und an jeder Stelle durchhörbar erschien. Die Reprise im ersten Satz beispielsweise leitete er ein durch eine flirrende Geste beider Hände und so wurde das in erster Linie formale Ereignis zu einem reizenden, intimen Moment. Die Musiker schenkten ihm ausnahmslos ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und setzten seinen Bauplan unvergleichlich Präzise in Musik um. In besonders guter Erinnerung bleibt der dritte Satz mit Menuett und Trio. Das Menuett kam ganz tänzerisch und vergnügt daher, und Nelsons gelang gar eine Art von wienerischem Duktus bezüglich der Interpretation des Dreivierteltakts. Im Trio bildete das wunderbare Duett zwischen Oboe und Fagott einen willkommenen kammermusikalischen Kontrast zu der ansonsten festlich anmutenden, fröhlich ausgelassenen Sinfonie.

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Mahlers fünfte Sinfonie interpretierten das Orchester und Nelsons auf sämtlichen acht Konzerten der Europatournee. Wer nun denkt, dass das beim achten Mal wohl nicht mehr sehr aufregend klingen kann, der irrt. Denn im Gegenteil spürte man eine lustvolle Interpretationsfreiheit, die wohl eben von dieser hohen Aufführungskadenz der letzten Tage herrührte. Eine zentrale Rolle kam dem ersten Trompeter Reinhold Friedrich zu, der mittlerweile zu einer Art Gallionsfigur des Lucerne Festival Orchestra avanciert ist. Nebst den eröffnenden Fanfaren des Trauermarsches im ersten Satz spielt die Trompete auch an weiteren Stellen eine Schlüsselrolle im Geschehen. Natürlich meisterte er seine Aufgabe mit Bravour. Sinnigerweise war sein Platz auf der Bühne exakt vis à vis vom Dirigentenpult, wohl durch Zufall angeleuchtet mit einem eigenen Scheinwerfer. Im Adagietto, das Mahler als Liebeserklärung an seine Alma konzipiert hatte, dann einer dieser zauberhaften Live-Momente: Die Besetzung beschränkt sich in diesem vierten Satz auf die Streicher und die dazu tretende Harfe, und es wurde einmal mehr deutlich, weshalb Claudio Abbado sein Orchester als «Orchester der Freunde» bezeichnet hatte: Die Streichergruppe liess eine Intimität und Dichte entstehen, wie sie oft nur im kammermusikalischen Zusammenhang erlebbar ist. Kaskadenartig überreichten die Violinen die Töne im dichten mahlerschen Geflecht den Bratschen, von wo sie über die Celli in die tiefen Kontrabass-Regionen wanderten, und das geschah so behutsam und hellhörig, dass der Zuhörer jedem Ton folgen und Maestro Nelsons bisweilen gar aufs Dirigieren verzichten konnte.

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Über der Bühne im Musikverein-Saal steht in goldenen Lettern geschrieben: «Gesellschaft der Musikfreunde». Das stimmte gestern im doppelten Sinne, denn nicht nur war der Saal gefüllt mit knapp dreitausend zuhörenden Musikfreunden, sondern auch die Bühne war bevölkert mit Menschen, die die Musik lieben und sich wohl auch gegenseitig recht gernhaben. In diesem Sinne darf man hoffen, dass Abbados Prämisse des «Orchesters der Freunde» auch in der bald anbrechenden neuen Ära des Lucerne Festival Orchestras erhalten bleibt.