Die Wahrheit und nichts ist die Wahrheit

18. April 2013, Sentimatt: Der Berner Regisseur Milo Rau (*1977) erregte innert den letzten drei Jahren internationales Aufsehen mit seinen politische Inszenierungen. An der Hochschule Luzern Design und Kunst sprach er über das Theater des Reenactment und seinen theatralen Prozess gegen die Weltwoche.

«Der Begriff Reenactment hat begonnen, mich anzustrengen.» Das sagt ausgerechnet der Mann, der das wirklichkeitsgetreue Nachspielen historischer Begebenheiten zurück auf die Bühnen und damit zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht hat. Bis er auf seine eigenen Projekte zu sprechen kommt, referiert Milo Rau gekonnt über die theoretischen und geschichtlichen Hintergründe des Reenactments. Es ist – so kann man in den Feuilletons nachlesen – zur Zeit einer der Trends auf allen Theaterbühnen, die etwas von sich halten. Letztes Jahr wurde Raus Stück «Hate Radio» über den Genozid in Ruanda deshalb an das Theatertreffen Berlin eingeladen. Eine grössere Ehre kann im deutschsprachigen Raum keiner Inszenierung widerfahren.

Pussy Riot Reloaded Nur: «Hate Radio» war, so Rau, eigentlich gar kein Reenactment. «Da haben wir verschiedene Geschehnisse auseinandergenommen und neu verbunden. Die Begebenheiten auf der Bühne haben so nie stattgefunden.» Die Feuilletonisten kümmert’s wenig. Milo Raus Name ist im Moment untrennbar mit dem Begriff verbunden – auch wenn er glaubt, er sei der «Falle» entkommen, auf ein bestimmtes Theaterkonzept festgenagelt zu werden. Begriffsdefinitionen seien sowieso nur Spitzfindigkeiten für linguistische Diskussionen. An ihnen beteiligt sich Rau, der die Deutungshoheit über sein Schaffen nicht abgeben will, offensichtlich ganz gern. Auch seine letzten beiden Produktionen, die theatrale «Fortführung» von Prozessen gegen russische Künstler, darunter Pussy Riot, und die Lesung von Breiviks Verteidigungs-Plädoyer, seien etwas ganz anderes gewesen. Eine Lesung sei eben ein Lesung – übrigens finde er den Text von Breivik sterbenslangweilig und möchte lieber an keiner Aufführung mehr zugegen sein. Und bei den «Moskauer Prozessen» wiederum, während denen Rau medienwirksam von der russischen Polizei verhaftet wurde, hätte auch kein Nachspielen historischer Ereignisse stattgefunden. Denn die Prozesse wurden auf der Theaterbühne ganz neu aufgerollt, mit ungewissem Ausgang.

Ein «ultranaiver Wahrheitsanspruch» Bleibt noch die einzige Inszenierung, die Rau selber als Reenactment durchgehen lässt: Den Tod des rumänischen Diktators Ceausescu führte er 2009 auf dessen Lieblingsbühne in Bukarest auf. Jedes Detail hatte er akribisch recherchiert. Das Schweizer Fernseher berichtete damals von einem jungen Regisseur, der mithilfe seiner Inszenierungen «die Wahrheit sucht». Das sei natürlich ein «ultranaiver Wahrheitsanspruch», den er so nicht erhebe. Er verstehe sehr wohl, dass die eine Wahrheit weder rekonstruierbar noch darstellbar sei; ihm gehe es viel mehr um die einzelnen Personen und die möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung ihrer Perspektive: «Das Objektive ist privater als man denkt.» Im Falle des Reenactments von Ceausescus Erschiessung trat dies sehr anschaulich zu Tage. Unsere kollektiven Erinnerungen sind geprägt von den schlechten Fernsehbildern des kurzen Schauprozesses: Die Kleidung der Militärs und des Diktator-Ehepaars im verwaschenen Grün, der Raum unter einem bedrückend grauen Schleier. Tatsächlich aber hat Rau an den Originalobjekten und -schauplätzen ganz andere Farb- und Lichtverhältnisse vorgefunden. Soll man sich am kollektiven Bild, d.h. an der Perspektive der Weltöffentlichkeit, oder am «Realen» mit geringerem Wiederkennungswert orientieren? Rau entschied sich für ersteres und wählte Uniform- und Raumfarben, die besser mit seinen eigenen «Fernseherinnerungen» korrespondierten.

Der Schauprozess zur Freude aller Solche Entscheidungen bzw. «Wahrheitsfindungen», wie sie Rau ironisch nennt, finden nach langem Erwägen statt. «Das Team muss in einen Zustand geraten, in dem es sich auf eine Wahrheit festlegen kann.» Plötzlich ist Milo Rau, der zuvor noch die postmodern-ironische Medienkritik der 90er Jahre in Frage stellte, selber ganz postmodern. Wahrheiten sind «machbar»: Seine Bilder können ältere und womöglich getreuere Bilder der Wirklichkeit überschreiben. Die verblüffend ähnlichen Aufnahmen seines Ceausescu-Theaterstückes erschienen, bevor sie von dort entfernt wurden, an oberster Stelle auf Youtube und erhielten dadurch Millionen Klicks – oftmals aus Unwissenheit darüber, dass dies nicht die Originalaufnahmen waren. Der neue Zugang zur Geschichte kann Fluch wie Segen werden. Milo Rau ist sich dessen bewusst und es scheint ihm zu gefallen. Nun schreibt er gleich selber Geschichte und führt auf, was noch nicht geschehen ist, sehr wohl aber geschehen könnte. Als nächstes wird er nämlich einen theatralischen «Zürcher Prozess» gegen Roger Köppel und die Weltwoche aufführen, zu dem nicht nur die Angeklagten, sondern auch über dreissig «Zeugen» im Neumarkttheater erscheinen. Nachdem er politische Schauprozesse in Russland hinterfragt hat, inszeniert er nun – zur Freude aller, nicht zuletzt der Weltwoche – selber einen solchen Prozess. Das Aufsehen ist garantiert.

Milo Raus öffentlicher Vortrag «Theorie und Praxis des Re-Enactments» mit anschliessender Diskussion fand statt im Rahmen der Input-Veranstaltungen «Critical Practice» des Master of Arts in Fine Arts an der Hochschlue Luzern Design und Kunst. Weitere Veranstaltungen der öffentlichen Vortragsreihe, die von Alexandra D’Incau und Sabine Gebhardt Fink organisiert wird, finden sich hier.