Leben nach dem Tod

In ihrem neuen Roman «Geisterfahrten» erzählt Theres Roth-Hunkeler von einem Unfall, der sich vor gut 80 Jahren tatsächlich zugetragen hat – und davon, wie er ihre fiktiven Figuren bis heute prägt.

Bild: Ayse Yavas

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Im Tal wütet die Maul- und Klauenseuche, die Bauern fürchten um ihre Existenz. Müde von langen Arbeitstagen, die sich in jenem Spätherbst 1938 aneinanderreihen, fährt der Amtstierarzt und Vorsteher der Seuchenkommission mit seinem Auto die junge Mutter Filomena und ihren vier Monate alten Säugling Walter zu Tode. Von diesem in Gerichtsakten wie auch in der damaligen Presse gut dokumentierten Ereignis ausgehend spinnt Theres Roth-Hunkeler in ihrem neuen Roman «Geisterfahrten» eine Familiengeschichte. Denn Filomena hat nicht nur ihren Mann, sondern auch den zweijährigen Ernst zurückgelassen.

Erzählt wird die Geschichte in der Gegenwart von Lisa, die um 19 Jahre jüngere Halbschwester von Ernst. Frisch pensioniert fährt sie zusammen mit dem 83-jährigen Bruder für ein paar Tage in das Haus einer Freundin im Malcantone. Sie will noch einmal Zeit mit Ernst verbringen, ihm nahe sein – noch das eine oder andere Familiengeheimnis lüften oder auch einfach ein paar Dinge an- und aussprechen, bevor es zu spät ist.

Roth-Hunkeler gelingt es ausgezeichnet, die eigenartige Mischung von durch Geschwisterliebe genährter Nähe und durch zwei unterschiedlich geführte Leben gewachsener Distanz zwischen ihren beiden Figuren zu zeigen. Unaufgeregt erzählt sie ihre Geschichte, lässt uns immer wieder der Erzählerin über die Schulter schauen beim Brotschneiden und Tischdecken und Kochen. Manchmal scheint das fast zu viel; aber dieses Alltagteilen, das macht Lisa nicht nur mit der Leserschaft, sondern eben auch mit ihrem Bruder. Das Nebeneinander von tragisch sterbenden Kindern und der Handhabung von Servietten zeugt tatsächlich von einem aufmerksamen Blick auf Familie, wo das Banalste, Alltäglichste in unseren Leben passiert direkt neben den wirklich dramatischen Dingen.

Wie nebenbei rechnet Roth-Hunkeler mit dem Vorurteil ab, Patchwork-Familien seien eine Erfindung unserer Gegenwart, zeigt auf, wie sich das Reden über psychische Krankheiten gewandelt hat, gibt in Einschüben einen Einblick in den gesellschaftlichen Umgang mit dem Unfall von vor 80 Jahren. Ohne grosse Effekthascherei gelingt ihr eine Familiengeschichte, die sich nicht zu einer Saga hochzuspielen müssen meint. Grosses Kino in leisen Tönen.