Eine Frage der Perspektive

Lorenz Rieser sucht den Sound der Stadt Kairo – auf den Strassen, aber auch in Jazzclubs und an Jam-Sessions. Seine Graphic Novel «Kairo im Ohr» ist eine Reflektion über Kunst, Freiheit und den eigenen Blick auf die Welt.

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Bild: zVg

«Travel broadens the mind», sagt das englische Sprichwort. Der Austausch mit Fremdem erlaubt ein besseres Verständnis für andere Sichtweisen und einen neuen Blick auf das, was man bereits zu kennen glaubt. In Zeiten, in denen man nicht reisen kann, braucht man dafür Alternativen. Eine solche liefert Lorenz Rieser mit seiner neuen Graphic Novel «Kairo im Ohr». Der Luzerner verbrachte 2016 ein halbes Jahr in der ägyptischen Hafenstadt in einem Kunstatelier. Dort machte er sich auf die Suche nach der stadteigenen Klanglandschaft, der Soundscape Kairos, der viertlautesten Stadt der Welt, so der Klappentext. Rieser beschränkt sich dabei aber keinesfalls nur auf den Strassenlärm. Er macht es sich zur Aufgabe, die Musik der Stadt zu entdecken – in Jazzschuppen und Konzertsälen, an Jamsessions und in Aufnahmestudios besucht er Künstlerinnen und Künstler, taucht ein in eine ihm fremde Musikszene.

«Kairo im Ohr» ist ein Spiel mit der Perspektive. Der Zeichner tritt selber als Figur auf, beschreibt die verschiedenen Episoden in Form von Erinnerungen, nimmt aktiv am Geschehen teil und verarbeitet seine Treffen und Erlebnisse, etwa mit dem Violinisten Amr, dem Mazaher Ensemble, dem Musikproduzenten Ahmad, der Tüftlerin Nancy oder dem Kanun-Spieler Yamen. Sie alle erleben und erschaffen ein Kairo der Kunst, genauer der Musik, sei sie traditionell oder experimentell. Als roter Faden zieht sich eine zentrale Frage durch die Begegnungen: Würden diese Menschen auch singen, spielen und komponieren, wenn ihnen niemand zuhören würde?

«Kairo im Ohr» schafft es, sich über das Beispiel der lokalen Musikszene grösserer Zusammenhänge anzunehmen.

Der Gedanke gehört zu den grundlegendsten der Kunstproduktion. Ist sie Ausdruck oder Wirkung? Gibt es dafür einen inneren oder äusseren Antrieb – oder braucht es beides? Die Überlegung nach Kunstschaffen ohne Publikum hat im Jahr 2020 eine neue Dringlichkeit erhalten. Plötzlich stellt sich diese Frage für einmal nicht theoretisch: Was tut man als Künstlerin oder Künstler, wenn die Bühnen geschlossen sind – gerade im Bereich der Improvisation und des musikalischen Experiments, wo das Moment des Spontanen, der Konzertsituation unabdingbar ist? «Kairo im Ohr» bleibt, wie nicht anders zu erwarten war, auf diese Frage die eine, nicht hinterfragbare Wahrheit schuldig.

Dafür liefert Rieser für die musikinteressierten Leserinnen und Leser eine Soundcloud-Playlist mit Songs der vorgestellten ägyptischen Musikschaffenden – und gibt ihnen so wiederum eine Bühne. Ebenfalls zu hören sind auf dieser Stücksammlung Aufnahmen aus den Strassen der Stadt mit Verkehrslärm, lauter arabischer Popmusik und aus Lautsprechern geplärrten Gebeten. Und damit erhält die Leserschaft schliesslich zumindest eine Antwort auf die andere Kernfrage des Buchs: So nämlich klingt der Sound Kairos.

Weiter schafft es «Kairo im Ohr», sich über das Beispiel der lokalen Musikszene grösserer Zusammenhänge anzunehmen. So wird die Veränderung der ägyptischen Gesellschaft durch den Arabischen Frühling vor zehn Jahren beschrieben, werden die fehlende Kunstfreiheit in Ägypten und die herrschende Zensur diskutiert. Schliesslich zeigt Rieser, wie Popmusik als Machtinstrument des Staates fungieren kann. Dass diese Diskussion wiederum innerhalb eines Kunstwerks stattfindet, das in der Schweiz von Bund und Region gefördert wurde, macht deutlich, wie wichtig neue Perspektiven auch für das Kulturschaffen bei uns immer wieder sind.

Lorenz Rieser: Kairo im Ohr
Graphic Novel. Editions Laurier, 2020. 208 Seiten, Fr.38.00