Dabei sind die Kulturschaffenden doch eigentlich genau das: mobil. «Sie essen Brot aus vielen Öfen», wird in meiner Muttersprache über zeitgenössische Nomaden und Abenteurer gesagt. Auf dem Arbeitsmarkt wird Mobilität als Zeichen für Dynamik und Flexibilität geschätzt. Sie zeigt Bereitschaft, neue Herausforderungen anzunehmen. Sind diese Kriterien für den kantonalen Kulturbetrieb nicht relevant?
Jede Kulturinstitution hat das Recht, ihre Türe aufzureissen oder nur einen Spalt weit zu öffnen, die Hürde auf diese oder jene Ebene zu stellen und zu beobachten, wer springen kann und wer sich die Beine bricht. Ich hinterfrage dieses Recht nicht. Als Ethnologin frage ich aber, was dahintersteckt: Warum sollen gerade drei Jahre jemanden «einheimisch» und somit förderungswürdig machen? Ist diese Zeit notwendig, um den Kantönligeist hervorzurufen? Setzt ein qualitativer Wandel ein? Findet eine Initiation statt?
Stellen wir uns eine andere Situation vor. Sagen wir, ich möchte meine Forschungsprojekte in der Schweiz fortsetzen. Eine Förderstelle weist mich aber ab: «Es tut uns leid, wir fördern nur lokal geborene Forschende. Sie können sich aber in drei Jahren bewerben.» Unvorstellbar, oder? Bis dahin kann das Forschungsthema seine Aktualität verlieren! Die Förderung der Wissenschaft erkennt das und funktioniert darum anders. Kulturförderung ist aber kantonal geregelt, ja oft genug sogar auf der Ebene der Gemeinden. Die Gründe dafür bleiben mir ein Rätsel.
Das berüchtigte Wort «Bezug»
Jetzt aber die gute Nachricht: Es gibt ein Seitentürchen. Für diejenigen, die sich in einem Kanton um Kulturgelder bewerben wollen, in dem sie weder geboren sind noch drei Jahre lang leben. Es ist mit dem Schild «BEZUG» gekennzeichnet. Bis vor Kurzem verwendete ich «Bezug» nur in Amtssprache. Jetzt muss ich mich mit diesem Wort im Alltag anfreunden: Hätte mein Kulturprojekt nämlich «Bezug zur kantonalen Kultur», wäre ich eventuell förderungswürdig. Doch schon wieder eine Frage, die ich nicht beantworten kann: Was bedeutet «kantonale Kultur»?
Das föderale Denken in Bezug (sic!) auf Kultur scheint fragwürdige künstliche Kategorien zu reproduzieren, was wiederum zur bürokratischen Ausgrenzung beiträgt.
Wird sie symbolisch durch das Blut der hier Geborenen definiert? Das wäre ein aufregender Anachronismus! Geht es um gesetzlichen Wohnsitz? Dann wäre die «kantonale Kultur» eine rein bürokratische Kategorie. Wird sie als Summe bestehender Kulturinstitutionen verstanden? Dann wäre sie ein Sammelbegriff. Oder geht es um bevorzugte künstlerische Formen und Themen? Ich wandte mich mit meinen Fragen an Instanzen, die es eigentlich wissen müssten: zwei Gastredner, die ich im Rahmen meines Kulturmanagementstudiums kennenlernte. Der eine war in der Kulturverwaltung in Aarau tätig, der andere im gleichen Bereich in Zug. Bei der Definition der «kantonalen Kultur» stiessen sie allerdings auf Schwierigkeiten. Mit entwaffnender Ehrlichkeit nannten sie zwei eher verlegene Beispiele: die (Aargauer) Rüebli- und (Zuger) Kirschtorte. Zweifellos gibt es in beiden Kantonen mehr Kultur als jene aus Konditoreien. Die Antworten wichen der Frage aus, eben weil sie nicht einfach zu klären ist. Es sei denn, wir sprechen von rein kommerziellen Kulturprodukten. Die inhaltliche Definition ist schwierig.
Die «kantonale Kultur» scheint eine bürokratische Illusion zu sein, die ins Leben gerufen wurde, weil die Kultur kantonal verwaltet wird. Illusionen im Leben sind wichtig, aber sie zu hinterfragen und manchmal aufzugeben, kann auch Gutes bewirken. Das föderale Denken in Bezug (sic!) auf Kultur scheint fragwürdige künstliche Kategorien zu reproduzieren, was wiederum zur bürokratischen Ausgrenzung beiträgt.
Kantonsfremde als Ressource
Es ist ein Privileg von Neuankömmlingen (egal woher sie kommen), ihr neues Umfeld mit Neugierde zu beobachten und bewusst zu erfahren. Und genau das faszinierend zu finden, was für Alteingesessene «normal» ist. Kulturschaffende und Ethnologinnen teilen die Fähigkeit, Selbstverständliches zu hinterfragen und bereits Verinnerlichtes noch einmal sichtbar zu machen. Das kann irritierend sein, aber es erlaubt auch einen Blick über den Tellerrand. Wenn man «neu» ist, nimmt man alles sehr intensiv wahr. Geht man davon aus, dann können die «Kantonsfremden» durchaus zur lokalen Kultur beitragen. Und man sollte nicht warten, bis der neugierige Glanz aus ihren Augen verschwunden ist. Besteht das Ziel der Kulturpolitik tatsächlich darin (und darin sollte es doch bestehen), nach klugen Köpfen mit frischen Ideen zu suchen, sollte man diese auch entsprechend fördern.
Der neutrale Status der Schweiz zog Wissenschaftlerinnen, Freiheitskämpfer, Künstlerinnen und Entdecker aus aller Welt an.
Die Schweiz hat auf diesem Gebiet eine gute Bilanz. Ihr neutraler Status zog Wissenschaftlerinnen, Freiheitskämpfer, Künstlerinnen und Entdecker aus aller Welt an. Niemand zweifelt heute an ihrem Beitrag. Warum nicht so weitermachen? Wäre ich eine Entscheidungsträgerin in einer Kulturinstitution, würde ich die Hürde niedriger setzen oder ein massgeschneidertes Programm für jene ins Leben rufen, die noch nicht so richtig «von hier» sind. Denn kulturelle Entwicklung findet nicht durch Ausgrenzung, sondern durch Öffnung statt.
Aber ich bin keine Entscheidungsträgerin. Ich bin ein Mensch in Kulturquarantäne. Drei Jahre warten. Drei Jahre, in denen sich die Welt komplett verändern kann. «Einen Finger am Puls der Ereignisse halten», heisst es im Polnischen, meiner Muttersprache. In drei Jahren wird die Welt anders pulsieren. Wie wirkt sich die Kulturquarantäne auf Ideen aus? Wie ein Brutkasten, denken nun vielleicht manche. Oder ein Gefrierschrank. Ein Schredder. Das mit dem Buch über die Schweiz ist jetzt passé. Was aus meinen anderen Ideen wird, zeigt sich dann im Februar 2023.