Aufgehen im Raum

Galerie Urs Meile, 05.03.2020: Die Vernissage von «circular flight» in der Galerie Urs Meile war geprägt von Social Distancing und von Arbeiten, die von der beeindruckenden Entschlossenheit und Beharrlichkeit der Künstlerin Julia Steiner zeugen. Die sich aber auch die Frage stellt: Ist dies das Ende?

Wer hätte gedacht, dass die Themen von Julia Steiner (*1982) plötzlich solch eine existentielle Dringlichkeit erhalten. In Zeiten des Social Distancing tritt der Leib und seine Wahrnehmung von Raum und Zeit, Bewegung und Vergänglichkeit sowie Anfang und Ende in den Vordergrund. Wieviel Nähe ist noch erlaubt? Und wie soll man sich begrüssen? Fragen, die neue Spielräume eröffnen. Und so begrüsste Urs Meile manche Gäste mit dem Wuhan Shake, einmal links und einmal rechts Fussinnenseite an Fussinnenseite berührend.

Die Ambiguität von Schwarz und Weiss

Als erstes steht man Steiners Arbeit «Nocturne XII, 2017» gegenüber. Als befände man sich in obskurer Nacht mitten in einem undurchdringlichen Bambuswald, aus dem plötzlich eine architektonische Struktur auftaucht. Es ist auch die älteste Zeichnung der Ausstellung und in ihrem charakteristischen Schwarzweiss gehalten.

Nocturne XII
«Nocturne XII», 2017. Gouache auf Papier, 220 x 166 cm

Die Künstlerin sagt im Gespräch, dass sie ohne Vorlage an mehreren Werken gleichzeitig arbeitet, so dass sie sie stets mit neuem Blick fortsetzen kann. Mit dem trockenen Borstenpinsel drückt sie die schwarzen Pigmente regelrecht ins weisse Papier ein. In infinitesimalen Bewegungen setzt sie auf und hebt sie an. Schwarz auf Weiss, eins und null. Wie im digitalen Druck, aber mit der analogen Ambiguität des Leibes. Die weissen Stellen sind somit Leerstellen. Die weissen Linien keine Striche, sondern Auslassungen.

Steiner vergleicht die Entstehungsweise ihrer Arbeiten mit der allmählichen Entwicklung einer Fotografie aus einem Negativ, die sich aus allen Richtungen gleichzeitig immer stärker verdichtet und höher auflöst, ohne sie jedoch am Ende zu fixieren.

Die Turbulenzen der Zeit

Im Kontrast zur früheren Arbeit steht «circular flight I, 2020», die Steiner eigens für die Ausstellung fertiggestellt hat. Gegenüber den vertikalen, diagonalen und transversalen Bewegungen ist der Blick nun kreisenden, turbulenten Bewegungen ausgesetzt. Eine grosse Spirale hebt sich vor dem Hintergrund eines fraktalen Wirbelfelds ab. Mangels Referenzobjekten, die einen Bezug zur Realität haben, bleibt unklar, ob es sich um einen Mikro- oder einen Makrokosmos handelt.

«Der Letzte Raum», 2016-2020. Installation, work in progress
«Der Letzte Raum», 2016-2020. Installation, work in progress

Die Zeichnung korrespondiert mit der vis-à-vis an der Wand installierten Objektserie «circulation (mutual growing), 2018». Steiner verbindet das non-lineare Wachsen organischer Äste mit der linearen Dekonstruktion von kunstvoll gegossenen Astfragmenten zu einer paradoxen wie poetischen Spiralform.

Dieser gefederte Wirbel

Die Verflechtung sich überkreuzender Gegensätze ist auch in den drei Vogelobjekten der Serie «flight (weight), 2016-2019» wirksam. Ein umhülltes Vogelpräparat wird verbrannt, so dass die Hülle mit Materie gefüllt werden kann. Und aus der «verlorenen Form» ein Unikat hervortritt.

Statt leichter Federn schwere Bronze, die der Vergänglichkeit des Lebens eine Ewigkeit im Tod schenkt. Statt hoch oben in der Luft frei zu fliegen, hängt der Körper tief unten über dem Boden. Nicht mehr als ein sich selbst Bewegendes, sondern träge, die geraden oder zirkulären Bewegungen nach vorne und hinten, links und rechts, oben und unten zeichnen nunmehr abstrakte physikalische Raumkurven anstelle lebendiger Linien des Leibes.

«Der Vogel, der schwebt, fällt und zu einem Häuflein Asche wird, schwebt und fällt nicht im physischen Raum, er erhebt und senkt sich mit einer ihn durchdringenden existentiellen Flut oder ist das Pulsieren meiner Existenz selbst, ihre Systole und Diastole.»

Maurice Merleau-Ponty in «Phänomenologie der Wahrnehmung»

Es lässt an den Philosophen Maurice Merleau-Ponty denken, der in seiner «Phänomenologie der Wahrnehmung» (1945/65) einen Traum beschrieb: «Der Vogel, der schwebt, fällt und zu einem Häuflein Asche wird, schwebt und fällt nicht im physischen Raum, er erhebt und senkt sich mit einer ihn durchdringenden existentiellen Flut oder ist das Pulsieren meiner Existenz selbst, ihre Systole und Diastole.»

Eine Welt aus reinen Übergängen

Ein Pulsieren der Existenz spürt man auch in Steiners jüngeren Arbeiten der Serie «Witterung (Worte), 2019», die inspiriert seien von der Stimm- und Sprachentwicklung ihres damals einjährigen Sohnes.

Die ersten Erkundungen des leiblichen Klangraumes beginnen so schnell, wie sie wieder enden. Ein plötzlicher Wetterwechsel, dem eine Verdichtung der Atmosphäre in einem Resonanzraum vorangeht. Die baldige Auflösung verhindert jedoch die Wolkenbildung. Und die einzelnen Buchstaben bleiben unsinnige Sinnelemente vor der Wortbildung.

«system (fence)», 2019. Gouache auf Papier, 240 x 800 cm:
«system (fence)», 2019. Gouache auf Papier, 240 x 800 cm:

Legt man aber, wie in «system (background), 2019», all die Buchstaben übereinander, entdeckt man im Ausdruck des Leibes den Ursprung und in seinen sprachlichen Gesten die mögliche Struktur der Sprache. Durch stetige Verdichtung verfestigt sie sich zu einem System. Verknüpfungen eines unentrinnbaren Gitternetzes. Doch geht man diesem «system (fence), 2019» entlang, gelangt man an weichere, diffusere Stellen. Zonen der Ununterscheidbarkeit, in denen die Verbindungen noch unklar sind und neu gezogen werden können. Hier und dort entdeckt man sogar Leerstellen, die wie Fenster in andere Räume verweisen. Im Kleinen wie im Grossen. Ganze Regionen gar – Räume der Freiheit, der Kunst und der Träume?

Das Berühren der Enden

Die Installation «Der Letzte Raum, 2016-2020» ist die Rekonstruktion eines Traumes von Julia Steiner, in dem ihr gewahr wurde, dass dies ihr letzter Raum vor ihrem Tod wäre. Aussen war die Bank, auf der sie sitzend auf die Welt blicken und im Innenraum des Traumes das Bett, auf dem sie liegen würde. An den Wänden die Raumzeichnung, die einen anderen Raum eröffnete. Als sie erwachte, habe sie sich gefragt, ob dieser Traum das Ende ihrer Raumzeichnungen bedeute. Doch das Ende wäre auch ein Neuanfang. Ein work in progress.

Julia Steiner. circular flight
Bis SA 2. Mai
Galerie Urs Meile, Luzern