Aus Scheisse Gold machen

Südpol Luzern, 07.10.2015: Fünf Journalist_innen aus renommierten, deutschen Zeitungen machten gestern zum ersten Mal halt in der Schweiz, um ihre preisgekrönte Aufführung „Hate Poetry“ zum Besten zu geben. Reichlich viel rassistisch motivierter Hass wurde dabei rezitiert und so massenhaft Gelächter evoziert. Wo bleibt da das schlechte Gewissen?

Journalismus — ein heissbegehrtes Metier, gleichsam aber auch ein heisses Pflaster. Die zunehmende Zugänglichkeit von Artikeln aufgrund der vermehrten Online-Präsenz lässt auch deren Resonanz expandieren. Insbesondere „heikle“ politische Themen scheinen bei gewissen Leserbriefschreibern einen Nerv zu treffen. Besteht der Name des Autors zudem aus mehreren „Ys“ oder sonstigen „verdächtigen“ Buchstabenkombinationen, dann ist die Zielscheibe komplett. Was es im Detail bedeutet, Zielscheibe der Leser zu sein, wurde am gestrigen Abend von Deniz Yücel (Die Welt) , Yassin Musharbash (Die Zeit), Mely Kiyak (Zeit Online, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung), Mohamed Amjahid (Tagesspiegel), Hasnain Kazim (Der Spiegel) und Doris Akrap (taz) demonstriert. Im Rahmen ihrer antirassistischen Leseshow „Hate Poetry“, die sich seit gut drei Jahren eines erfolgreichen Bestehens erfreut, lasen die Journalist_innen ohne „bio-deutsche“ Namen fortlaufend Leserbriefe vor, die vor fremdenfeindlicher Überladung nur so strotzten. Das Ziel: Mit den eigenen Briefen die lautesten Lacher und Applause zu generieren und so das Battle in den jeweiligen Kategorien – „Lieber Herr Arschloch/Liebe Frau Arschlöchin“, „Abo-Kündigungen“, „Grosse Oper“ und „Kurz und schmutzig“ – zu gewinnen. Die eigentliche Intention: Eine Wirkung entfalten, die sich erst durch den öffentlichen Vortrag des Geschriebenen einstellt und die ganze Idiotie und Absurdität erkennbar macht, die in diesen Briefen steckt. Ein Akt der Selbstermächtigung sei dies, so Musharbash zum Schluss. „Wir haben im Grunde den Scheiss, der jeden Tag in unseren Rechnern landet, in die Umlaufbahn zurückgeschickt. Wir haben uns in gewisser Weise dazu entschieden, aus Scheisse Gold zu machen und aus rassistischem Dreck eine Party.“

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So wurden fortwährend Leserbriefe, deren Inhalte sich weitgehend jenseits jeglicher Grausamkeit bewegen, vorgelesen. Publikum sowie Vortragende wurden dabei von einer Lachekstase in die nächste befördert. Dieser teilweise etwas paradoxe Effekt hatte natürlich einerseits mit der virtuosen und wohl akzentuierten Vortragsweise und andererseits mit der zumeist absenten Logik des Gelesenen zu tun. Von „Sie können zwar ganz gut schreiben, aber trotzdem sollten sie Deutschland lieber verlassen.“, über „Weisst du, ich lass deine Mutter weg, ich fick deine Oma!“ hin zu „Euch Drecksäcke vom Spiegel sollte man zurückentwickeln und abtreiben, ihr Pestbeulen der Gesellschaft, Schmarotzer…!“. Gelegentlich blieb dem Publikum das Lachen auch im Halse stecken: „Ungeziefer aus Deutschland. Wir lassen alles vergasen. Dieser Dreckszigeunerstaat braucht dringend eine ethnische Säuberung. Wird Zeit, dass sich die NSU dieser Dreckschlampe annimmt! Gezeichnet, Deutschnationale Front. […] 90% des medialen Ungeziefers sind zu vergasen. Nochmals: Diese Dreckstürkenschlampe ist ein Fall für den NS-Untergrund!“.  Gut dreieinhalb Stunden zogen sich die Hasseinlagen hin und wurden von Kommentaren und Running-Gags (Die Weisheit von Frau Fuchs im Blick am Abend: Stöhnen ist nicht obligatorisch!) umrundet. Teilweise auf etwas plumpe Art („Versteht man in der Schweiz auch Fremdwörter?“), mehrfach jedoch auch treffend. Neben Galgenhumor über Muslime, Christen, Türken und Deutsche mussten auch mal die Schweizer dran glauben. So wurde nach der Pause, ein selbstgebasteltes Minarett auf der Bühne aufgestellt — als wohlgesinntes Geschenk und stolzer Gesetzesbruch zugleich. Diverse Fahnen, Aldi-Taschen, Muezzin-Wecker, Döner-Schild, Turban und weitere Accessoires untermalten die Darbietung auf klischeehafte, dennoch passende Weise.

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Während des Vorlesens wurde reichlich getrunken und geraucht, mit Konfettis geworfen und reingerufen (teils sogar aus dem Publikum). Zum Schluss gelang schlussendlich auch der Twist hin zur Ernsthaftigkeit. Yassin Musharbash erteilte dem Publikum in einer kurzen Abschlussrede die Absolution. Solange mit den richtigen Leuten über diese Briefe gelacht werde, sei dies in Ordnung. So dürfe Rassismus auch mal komisch sein. Dennoch seien die Auswirkungen des Gelesenen und das Ausmass des Hasses alles andere als belustigend für die Betroffenen. Ein mehr als abendfüllendes Programm, in dem mit humoristischem Stil dem Rassismus getrotzt wurde. Veranschaulicht wurde ferner, dass die Anonymität im Internet die schmutzigsten Facetten und tiefsten Abgründe der Menschen zum Vorschein kommen lässt. Solche, von denen man meinen könnte, sie gehören in die Mitte des letzten Jahrhunderts. Die Ernsthaftigkeit, mit der diese Plattitüden schriftlich von sich gegeben werden, belehrt jedoch eines Besseren. Die Aktualität in Europa lässt derweilen grüssen!