Zu Fuss über die Alpen

Bourbaki, 16.02.2014: Jahrhundertelang trieben die Innerschweizer Viehzüchter jeweils im Herbst nach dem Alpsommer ihr Vieh zu Fuss ins Tessin und nach Italien, um es dort zu verkaufen. Dieses Geschäft war einträglich, die lange Reise über den Gotthard aber abenteuerlich und gefährlich. Mit dem historischen Dokumentarfilm «Tönis Brautfahrt» will die Megger Filmemacherin Claudia Steiner die Tradition der sogenannten Senntenfahrten vor dem Vergessen bewahren. Eine bisweilen etwas stark romantisierende Hommage an den Mut und das harte Leben unserer Vorfahren.

Für einmal ist das Kino Bourbaki nicht von den üblichen Kulturkinogängern bevölkert. Vor dem Film wird über Viehhaltung diskutiert und man versucht, sich mit irgendwo gelesenen Details aus dem Film zu überbieten. Der Andrang ist gross und die Leute drängen sich in einer unordentlichen Schlange vor den Kassen. Kurz bevor das Kassensystem den Geist aufgibt, kann ich mir gerade noch ein Ticket erschwatzen (und bin beeindruckt von den trotz allem geduldig und zuvorkommend bleibenden Billetverkäuferinnen). Die Aufregung und Vorfreude ist dementsprechende gross, als der Film schliesslich mit einiger Verspätung beginnen kann. Vier Männer treiben eine Schar Kühe durch karge Gebirgslandschaften, auf hohen Brücken über reissende Bäche, auf schmalen Pfaden entlang steiler Felswände und schliesslich über den verschneiten Gotthardpass. Voran geht Töni, der junge Senntenknecht, der das erste Mal bei einer Senntenfahrt dabei ist.

Die Novelle «Tönis Brautfahrt» des Einsiedler Schriftstellers Meinrad Lienert (1865–1933) führt als roter Faden durch den Film. Die mit vielen Dialektwörtern gespickten und in einem volkstümlichen Stil gehaltenen Textpassagen werden von Spielfilmszenen mit vielen schönen Landschaftsaufnahmen illustriert. Als weitere Grundlage dienen die überlieferten Geschichten des Einsiedler Landwirts und Bauunternehmers Richard Schönbächler. Als Kind erzählte ihm sein Grossvater von den Abenteuern der Senntenbauern. Erzählungen, die ihn sein Leben lang faszinierten und nun für das Drehbuch verwendet wurden.

Ergänzt werden die stimmungsvollen Texte und Bilder durch historische Fakten, Fotografien und Illustrationen. Dabei geht es nicht nur um das Leben damals. Obwohl die Senntenfahrten nach dem Bau der Gotthardbahn überflüssig wurden, reicht ihre Bedeutung bis in die heutige Zeit. Noch immer ist der Viehhandel ein wichtiger Erwerbszweig für die Innerschweizer Bauern. Auch im Brauchtum der Innerschweizer Kantone hat sich die Tradition der Senntenfahrten niedergeschlagen. Obwohl das Bundesamt für Kultur irgendwann während der Produktionszeit des Films die Empfehlung rausgegeben habe, keine Filme mehr zu produzieren, in denen Kühe vorkommen, habe sie diesen Film nun doch noch fertigstellen wollen, scherzt die Regisseurin nach dem Film. Ob es weitere Filme über Schweizer Tradition und Brauchtum braucht, sei dahingestellt und ist natürlich Geschmacksache. Offenbar findet das Publikum nach wie vor Gefallen an dem Thema, denn der Film sei sehr gut angelaufen. Abgesehen vom Thema war mir der Film allerdings etwas zu wiederholend und langatmig. Oft werden Details zwei-, dreimal erwähnt oder im Text und Bild überdeutlich erklärt. Ähnliche Einstellungen wiederholen sich, ohne Neues zu erzählen. Trotz der beeindruckenden Landschaftsaufnahmen überzeugte mich auch die Geschichte vom Senntenknecht Töni nicht ganz. Es ist schön, eine Geschichte und eine Figur zu haben, die durch den Film führt, jedoch störte mich der Heimatstil des Textes. Er stammt aus einer Zeit, in der kaum mehr Senntenfahrten durchgeführt wurden und blickt in romantischer Weise auf diese Tradition zurück. Wohl werden die Gefahren und Schwierigkeiten des beschwerlichen Wegs erwähnt, aber eher als gruslige Effekte für ein wohliges Schauern genutzt. Auch die Darstellung der «Welschen» als ausnehmend lebensfrohes Volk von abzockerischen Männern und schönen Frauen, die in den Tavernen singen, tanzen und dem guten Wein frönen, finde ich etwas klischeehaft. Zum Schluss packt Töni seine Braut, ein armes Waisenkind, kurzerhand in einen Sack und transportiert sie heim nach Schwyz, wo sie es viel schöner hat und sich sofort wohl fühlt (obwohl sie ausser «liebs liebs Töni» kein Wort Deutsch spricht). Ein etwas kritischerer Umgang mit der Vorlage hätte ich wünschenswert gefunden. «Tönis Brautfahrt» ist ein Film, der zu einem Grossteil in der Innerschweiz, mit Innerschweizer Mitarbeitern und Mitteln produziert wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass die hiesige Filmförderung nicht gerade zu den besten des Landes gehört, ist das eine sehr erfreuliche Leistung. So meinte denn auch die Regisseurin zu Recht, sie sei stolz, dass dieser Film mit den relativ bescheidenen Mitteln zustande gekommen sei. Dies sei natürlich nur mit viel Einsatz und Optimismus aller Beteiligten möglich gewesen.

http://toenis-brautfahrt.ch