Wir müssen bleiben, um zu sehen, dass die Geschichte im Blut endet

«Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen». Wajdi Mouawad, der libanesische Autor, der im deutschsprachigen Theater gerade entdeckt wird, tut es trotzdem. Das Luzerner Theater präsentiert das Stück als Schweizer Erstaufführung. Hörenswert!

Europa ist tot. So steht es auf dem Programmfalter, und so steht es auch im Stück. Aber natürlich erzählt Wajdi Mouawad nicht vom griechischen Fiasko und der Eurokrise in diesem Stück. Es ist die ganze Welt, die tot ist. Weil alles, was auf ihr lebt, ins finstere Loch strebt, ins Ende, ins Blut und in den gewaltsamen Tod. Ganz einfach, weil die Menschen nicht anders können, weil sie in alten Verhängnissen verstrickt sind, die sie längst nicht mehr überblicken, die sie vielleicht noch nicht einmal erahnen. «Die Menschen wollen das Glück», heisst es, «aber auf ihrem Weg schleicht sich ein Fehler ein, und sie enden im Blut.»

Es ist eine grosse Menschheitsklage, dieses Stück, und natürlich sucht der  libanesische Autor hier die grosse Geste, natürlich arbeitet er pathetisch. Die Klage gilt Theben, der Stadt, die doch gegründet wurde, um nach dem grossen Krieg den Frieden zu finden. Von Kadmos, der die Waffen ablegte und das Wort ergriff, anstatt wie seine Brüder auf der Suche nach der entführten Europa den Tod zu finden. Aber auch das Wort ist eine Waffe, das zeigt Hans-Caspar Gattiker als Kadmos sehr schön, als er seine utopische Rede subtil, aber doch merkbar mit ideologischem Eifer unterfuttert.

Und so geht die Geschichte weiter, von der man nicht mehr oder nurmehr in tausend Gerüchten weiss, wie ihr Unglück eigentlich begonnen hat. Sondern nur, dass sie im Unglück enden wird. Oft scheint es so, dass die Menschen nur am Leben bleiben, um zu sehen, dass ihr Tod bloss ein läppisch kleiner Teil eines viel grösseren Gemetzels sein wird. Laios wird König von Theben, muss fliehen, irrt durch die Welt, entfacht einen weiteren Krieg und findet den Tod. Ödipus wird in seinen Komplex hineingeboren, irrt durch die Welt und findet die Katastrophe. In Herzen verfaulen Heimaten, und die Menschen setzen ihre Schritte in geschmolzene Fussstapfen. So sprachmächtig geht das zu und her bei Wajdi Mouawad, und das Blut, das aus dem Einen fliesst, gibt dem Anderen die Zeit, sein Leben zu retten. Die Welt ist leer, aber voller Chaos.

Das Stück ist packend in seinem Ringen um die konsequente Schwärze. Erst am Schluss, als Ödipus zu sprechen beginnt, verfällt es in eine hastige, zu hastige Nacherzählweise der alten Mythen. Schön ist, dass die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr den Pathos nur in ihren schwächsten Momenten in ein Schmerzenstheater überführt. Dann müssen die Schauspieler an die Wand hüpfen und so tun, als täte das furchtbar weh, oder den Kopf ins Wasser tunken und so tun, als seien sie fast gestorben. Das sind Lappalien gemessen am ganzen Stück, doch zeigt sich hier doch die Schwäche der Inszenierung (und auch des Bühnenbilds von Nina von Essen): Sie illustriert zu oft und kreiert so gut wie nie starke, suggestive Bilder. Und dann sitzen die Schauspieler etwas ratlos auf den Stühlen der Podesterie vis-à-vis der Zuschauer («Nichts sieht uns an, nur Leere»); dann wiederum hantieren sie etwas unverbindlich mit den vielen Stofftieren zu ihren Füssen (die wie eine hübsche Idee aussehen, von denen man aber nicht genau weiss, was sie eigentlich sollen: Sind es Leichname? Die Unschuld der Kinder? Sind die Kinder wirklich unschuldig? Oder sind es nur die Leichname?).

Trotzdem oder gerade darum muss betont sein, wie hörenswert dieser Theaterabend ist. Wie stoisch das Ensemble den Pathos des Textes schultert, wie trefflich leicht, gefasst und ruhig es ihn wiedergibt! Wie eindrücklich die Worte in den gelegentlichen Chören und Kanons ineinander greifen und wirken! Das ist unspektakuläres, aber gerade darum grossartig exekutiertes Theaterhandwerk, das Wiebke Kayser, Almut Kühne, Jörg Dathe, Manuel Kühne und der bereits erwähnte Hans-Caspar Gattiker hier bieten. Ja, es ist ein sprachlicher Genuss, der das Grauen, von dem gesprochen wird, umso tiefer macht.

Nicht vergessen darf man Martin Baumgartner, der als stummer Musiker auf der Bühne sitzt, und an Kleininstrumenten und allerhand elektronischem Gerät eine Tonspur auf den Weg schickt, die in brillanter Unaufdringlichkeit das Geschehen verdichtet. Und die zum Glück ohne dieses unglücksschwangeren Dröhnen, ohne dieses Klaustrophobiebrummen auskommt, mit der im Theater für gewöhnlich schwere Zeiten ausgemalt werden (siehe z.B. «Schuld und Sühne» am gleichen Theaterhaus). Nicht ganz gefeit vor diesem Effekt ist freilich die Schauspielerin und Sängerin Almut Kühne mit ihren Kieksern des Entsetzens, ihrem Krächzen des Geplagtseins. Aber wenn sie dann endlich ihre Lieder singen darf, dann schrumpft das grosse Unglück mit einemmal auf die Grösse einer kleinen Melodie, die dir sanft die Tränen aus den Augen streicht.

Und wir bleiben gern noch einen Moment und harren der Vernichtung.

Bis 12. Juni, Luzerner Theater

Bilder: zvg