«Wir können keine Zugabe spielen»

Der dritte Abend am Jazzfestival Willisau bot viel Improvisation in Wort, Lautmalerei und natürlich Musik. Weisse Wände aus Wien waren die kleine Sensation schlechthin, das Gitarren-Genie Nels Cline mit Band bewegte sich zwischen Free Jazz und Rock. 
 
(Bilder: Marcel Meier/zvg)
Wenn Berns Meteorologen vor Unwettern warnen, der Hochsommer blitzartig in den Herbst wechselt, ist man in Willisaus Festhalle gut aufgehoben. Es ist das zweite Festival unter Arno Troxler, der die stilistische Öffnung heuer konsequent weitertreibt – weg vom reinen Jazz, hin zu einem bunten Reigen hochkarätiger Namen.  So einer stand gestern mit Nels Cline auf dem Programm. Bei Indie-Heads ist er als Mitglied der Band Wilco hochgeschätzt, daneben ist er ein fantastischer Universal-Gitarrist. Sein Stil so eigenwillig wie grenzenlos. Gestern war er mit den Nels Cline Singers, seiner Improvisationsband aus Trevor Dunn (Kontrabass und Bassgitarre) und Scott Amendola (Drums) in Willisau. Unterstützt durch die Japanerin Yuka C. Honda an Keyboards und Elektronik.
 
Vor 27 Jahren sei er bereits in Willisau aufgetreten, damals sein allererstes Konzert in Europa überhaupt. Der Grossgewachsene trat vor seine zwei Fenderverstärker, umgeben von allerlei Effekten am Boden und auf einem Tischen und dreschte in die Saiten, dass einem das Unwetter draussen milde vorkam. Das erste Stück war ein Bombeneinschlag, Dunn malträtierte seinen Kontrabass von Anfang an und Amendola haute sichtlich lustvoll auf die Trommeln – und auf einen Schlag kippte das Ganze in einen sanften Groove. Ein überzeugender Einstand, doch leider schaffte es die Band nicht, diese Energie während des gut einstündigen Auftritts hochzuhalten. Da war zwar ein beeindruckendes Zusammenspiel hör- und sichtbar (Cline stand die ganze Zeit seitlich abgedreht zur Band, zur Enttäuschung jener in der ersten Reihe, die die eine oder andere technische Finesse zu erspähen erhofften), auf Hand- und andere Körperzeichen wechselten die Rhythmen und Intensitäten, und doch hatte das Ganze mit der Zeit etwas einschläferndes. Honda setzte kaum merklich Akzente. So war denn auch der Applaus am Schluss kein Vergleich zur Euphorie nach dem Auftritt der ersten Band des Abends, des österreicherischen Trios Weisse Wände. Man muss sich das vor Augen führen: eine harmlose Akustikgitarre (Karl Ritter), ein Mann am Mikrofon (Chrisitan Reiner) mit «Stimme und Mund» und sonst nichts sowie ein Schlagzeuger (Herbert Pirker). Aber welch explosive Mischung das ergibt, wenn hardcoremässiger Jazz auf Lautmalerei und Spoken Word trifft, konnte man nicht ahnen. Und sie ahnen es wohl selbst jedes Mal von Neuem nicht – Impro eben.
 
So geht das: Reiner steht am Mikro, würgt und presst Laute hinein, Textfragmente, einzelne Sätze wie aus einem Lautsprecher. Er beginnt Geschichten zu erzählen, die dann doch keine sind. Sein Körper zuckt dazu, angedeutete Tanzeinlagen à la Jackson – ein wahnsinniger Typ. Und er hat zwei ebenbürtige Mitstreiter in Sachen Wahnsinn: Ritter soliert auf seiner Gitarre auf eine absonderlich-dickköpfige Art, wie es wohl nur ein Wiener fertigbringt. Er verstimmt die Saiten während des Spiels, mal tönt es wie ein Kontrabass, mal wie eine Sitar. Er packt das Instrument am Bauch, fährt mit dem Klangkörper über die Boxen, dass es zu wummern beginnt. Auch der Schlagzeuger mag sich in diesem Wettstreit behaupten, indem er sich zurücknimmt, aufmerksam ist, glasklar die Rhythmen treibt, Gitarre und Stimme mal abbremst, mal antreibt zu einem weiteren Stimmen-Saiten-Gewitter. Der Schluss: Ritter beginnt eine Gitarrensaite nach der anderen zu lösen, rupft sie aus dem Instrument, was seltsame Klänge erzeugt. Eine Stunde ist vorbei, die Drei verbeugen sich vor dem tosenden Publikum, das nicht mehr aufhören will. «Das isch kä Musig meh», sagt der behäbige Berner auf dem Sitz nebenan. Man weiss tatsächlich nicht genau, was es war, aber es war fantastisch. Reiner entschuldigt sich schliesslich, sie können keine Zugabe spielen. Die Improvisation hat ihren Höhepunkt bereits hinter sich. Wie wahr. Und Ritter hat keine Saiten mehr.
 
Das Jazzfestival Willisau dauert noch bis Sonntag (komplettes Programm)