Weiterlesen. Weiterküssen.

Lit. z, 30.06.2017: Das wunderbare, atmosphärische Zentralschweizer Literaturhaus (lit.z) hat Literaturkenner und -virtuose Peter von Matt zu sich nach Stans geholt, um mit ihm in seinem neusten Essayband «Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur» sieben eigenwillige, bald rätselhafte und zufällige Kussszenen aufzuspüren. Die Lesung war restlos ausverkauft; bis in die hinterste Ecke des Saales haben sich Literaturinteressierte, ehemalige von-Mättler-Studis und Bekannte in Vorfreude auf Ausflüge in die Tiefen und Untiefen der Literatur eingefunden.

Das lit.z ist ein Glücksfall für die Zentralschweiz. Das alte, traditionelle, nach Holz duftende Herrenhaus ist der ideale (Sehnsuchts-)Ort für Begegnungen rund um Literatur. Was es in seiner Aufmachung einzigartig werden lässt, ist die liebevolle und engagierte Weise, mit der Sabine Graf (Intendantin) und Daniela Krienbühl (Leiterin Administration & Organisation) diesen Begegnungsort für Literatur beseelen; Schreibmaschinen und Bücher schmücken die einzelnen Räume, für den Apéro wurden eigenhändig Grissini gebacken und überall flackern Kerzen und verstärken so die bereits heimelige, intime Atmosphäre im Haus. Ein Gefühl des Heimkehrens kann sich also auch bei Gästen einstellen, die vorher noch nie im lit.z zu Besuch waren. Für Peter von Matt war es gestern im wahrsten Sinne des Wortes ein kurzzeitiges Heimkehren; er selber ist nämlich in Stans aufgewachsen.

Sibylle Birrer, Literaturwissenschaftlerin und aktiv im Literaturbetrieb tätig, hat die richtigen Fragen präzise platziert und inhaltlich gekonnt auf den Punkt gebracht und damit das Gespräch sofort zum Konkreten, zum Kern geführt. In seinem neusten Buch untersucht von Matt sieben Kussmomente aus der Weltliteratur, die laut ihm als Schlüsselmomente im Handlungsgefüge der Erzählung eingesetzt werden, wonach nichts mehr ist wie vorher; sowohl für die Küssenden als auch für die Lesenden.

«Literatur denkt in Szenen», lautet sein poetologisches Programm, und diesen Szenen wolle er auflauern. Denn sie seien die rätselhaften, verdichteten Kernpunkte, in denen alles Abgründige, Komplexe und Verdrehte dargestellt werde; immer viel mehr als das, was darüber gesagt werden könne. Es seien die in diesen Szenen verborgenen Grundkonflikte (in «Sieben Küsse» sei das ausnahmsweise eher eine «Grundaktivität»), die ihn so faszinieren. Und es ist wohl dieses beachtliche Literaturverständnis, das ihn befähigt, anhand eines einzelnen Motives die ganze Literaturgeschichte aufblättern zu lassen.

Von Matts Kunst liegt gerade darin, zwischen Weltliteratur und Leserschaft zu agieren und zwischen der Spannkraft der Literatur und neugierigen Leser*innen zu vermitteln, die bereit sind, sich auf neue Erkenntniswelten und Blickwinkel einzulassen. Er unternehme sozusagen Tiefenbohrungen in Erzählungen, um herauszufinden, was ganz unten passiere.

Peter von Matt litz

Dieses Bild wird von Sibylle Birrer noch ergänzt: Sie sehe von Matt mit der Stirnlampe vorneweg, die Neugierigen an der Hand; dabei Stellen ausleuchtend, an denen man sonst im Dunkeln ahnungslos vorbeigehen würde.

Literatur ist für von Matt nicht nur ein intellektuelles Exerzitium, sondern ein seelisches und ergreifendes Erlebnis. Gerade das macht ihn so einzigartig: Seine Zugangsweise ist eine intuitive, zugleich untermauert mit viel Fachwissen und Leseerfahrung, angetrieben von einer unermüdlichen Neugierde und Leidenschaft für seinen Stoff. Er ist eben irgendwie beides – ein fabelhafter Erzähler und ein scharfsinniger, aufmerksamer und forschender Literaturwissenschaftler.

Von Matt liest die subtile, aber durchdringende Kussszene aus Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway». Bevor er beginnt, spricht er über die Protagonistin Clarissa wie über jemanden, den er schon viele Jahre kennt. Dann liest er eine Passage, hält inne, schmunzelt, liest weiter. An anderer Stelle unterbricht er sich selbst und ruft begeistert: «Auf so einen Satz muss man mal kommen!» Gut möglich, dass er diese Stelle nun schon zum tausendsten Mal gelesen hat – und noch immer entzückt sie ihn. Seine Freude am Spiel des Verbergens und Aufdeckens ist ihm anzusehen – und wirkt ansteckend.

Von Matt hat ein Gespür dafür, das Lesen schmackhaft zu machen, aufzuzeigen, wieviel in literarischen Szenen versteckt liegt, ohne deren Geheimnis offenzulegen. Nach der Lesung haben wohl die meisten Lust verspürt, möglichst unmittelbar mit dem Lesen von «Sieben Küsse» zu beginnen. Um sich die sieben Klassiker weiter vorzunehmen, die von Matt darin so virtuos umtanzt und eingefangen hat. Und dann, weiterlesen, weiterlesen.

 

Weiterküssen.*

*(berühmte Grussformel Marina Zwetajewas in einem ihrer Briefe an Rilke. Wenn es schon um die grosse Weltliteratur geht...)