Verstand allen Glücklichen, Freude allen Unglücklichen

lit.z - Literaturhaus Zentralschweiz, 12.10.2015: Zwei der profiliertesten ukrainischen Gegenwartsautoren - Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan - zu Besuch in Stans. Ein literarischer Abend der Extraklasse, der das Publikum mitzunehmen vermochte auf eine Reise in die Alltagszustände und Kriegsrealitäten der Ukraine. Scharf, kritisch und von lyrischer Schönheit. Eine Liebeserklärung an die Kunst der Literatur, an die Demokratie und nicht zu letzt an ihr eigenes Land.

Ein Abend, ganz im Sinne Kafkas: «Das Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.»Mit diesen Worten übergab Sabine Graf, die Leiterin des lit.z, das Wort an die angereisten Gäste. Auf der kleinen Bühne unter dem Dach des Literaturhauses sassen Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan, zwei der bedeutendsten ukrainischen Autoren der Gegenwart, begleitet von der jungen Dolmetscherin und Kulturmanagerin Evgenija Lopata und der Moderatorin Ilma Rakusa, selbst Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Im Rahmen der Lyriktournee «Meridian Czernowitz 2015», die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen Dialog zwischen Dichter und Autoren auf nationaler und internationaler Ebene zu ermöglichen, reisen die vier Anwesenden zur Zeit mit den literarischen Werken Andruchowytschs und Zhadans im Gepäck durch Europa. Neben Halten in Paris, Brüssel und Frankfurt gastieren die Autoren auch in den Literaturhäusern der Schweiz. Die Thematik kreiste um das hoch aufgeladene Gravitationsfeld Ukraine und um die Frage nach dem Potential der Literatur. Die Texte der beiden Autoren behandeln Alltagsthemen und sind das Sprachrohr einer freiheitlich-demokratischen Ukraine. Andruchowytsch wie auch Zhadan setzen sich in ihrem künstlerischen Schaffen mit Heimat und Europa auseinander und nehmen auch was die Politik betrifft kein Blatt vor den Mund. Literatur ist Kraft, oder um es mit den Worten der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, ebenfalls eine gebürtige Ukrainerin, zu formulieren: Bücher sind nicht nur ein Stimmenchor einer überwältigenden Kraft, sondern auch ein Weckruf. Das Stanser Publikum wurde nicht nur Zeuge, welch melodische Sprache das Ukrainische ist, sondern bekam das Gelesene stets auch in deutscher Sprache zu hören. Ilma Rakusa wiederholte Zhadans Zeilen und versetzte mit der deutschen Übersetzung die Zuhörer und Zuhörerinnen mitten in die Strassen Charkiws hinein. Die Stadt als Held der Geschichte, wuchtige Beschreibungen und bildhafte Sequenzen fügten Zeile für Zeile Zhadans spannendes, zweigeteiltes Werk (der erste Teil Lyrik, der zweite Prosa) Mesopotamien zu einer Chronik eines realistisch fiktiven Stadtgeflechts zusammen. Auch in seinen Gedichten spielt der Trott einer Gesellschaft, der Groll auf Gottes Ungerechtigkeit und der gemeinsame Kummer eine wichtige Rolle – doch stets behält er die poetische Beschreibungsform; Zhadan der Dichter, auch wenn er Prosa schreibt. Juri Andruchowytsch hat ebenfalls die Stadt als Zentrum seines Werks Lexikon der intimen Städte, einer Textsammlung nach dem alphabetischen Prinzip. 111 Städte kommen vor, alle dem Alphabet nach geordnet, und allen ist eine Geschichte gewidmet. Manche Orte wie London oder New York sind Schauplätze kleinerer Romane, andere wie Jerusalem beinhalten lediglich zwei Sätze. Es ist eine Hommage an das wandelbare Raum-und-Zeit-Verhältnis, welches sich in der Literatur wunderbar verändern lässt. Metropolen stehen neben Kleinstädten – das Alphabet diktiert. Freiheit trifft auf Unfreiheit, Schweizer Ordnung auf mögliche Stereotypen, alles säuberlich dekonstruiert und in einem Spiel der Leserschaft zu Gemüte geführt. Kritisch, scharf und nicht selten sehr humorvoll. Der kurzweilige Abend endete in einer spannenden Diskussion, Rakusa verstand es geschickt, zwischen den Autoren und dem Publikum hin und her zu moderieren, Fragen wurden fundiert diskutiert und demonstrierten nicht nur den messerscharfen Verstand der beiden Autoren, sondern ebenfalls ihre unerschütterliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die ausgeprägte Loyalität zu ihrem Land. Einmal mehr ein sehr erfüllender Abend in Stans.