Umpolung in Giswil

Turbine Giswil, 13.09.2014: Alle Jahre wieder versammelt sich in der alten Turbinenhalle in Giswil das Who‘s Who der Schweizer Performancekunstszene. Die 13. Ausgabe des International Performance Art Giswil ging mit einer neuen Festivalleitung und dem Fokus auf polnische Performance-Kunst über die Bühne. Unter der neuen künstlerischen Leitung von Andrea Saemann wurde das Programm sogleich auf drei Tage ausgeweitet. Die nationalen und internationalen Performances in und um die Turbine Giswil werden erstmals mit Diskussionen und einem Netzwerktreffen der PANCH (Performance Art Network CH) ergänzt.

 

(Von Michael Sutter (ms) und Juliette Weiss (jw). Fotografien von Michael Sutter)

 

Die S-Bahnfahrt vom Luzerner Kopfbahnhof bis nach Giswil zieht sich in die Länge. 45 Minuten Gedankenfreiheit, was einen wohl erwarten wird. Ephemere Körperkunstaktionen, oftmals ortsbezogen und vom Erleben des Betrachters abhängig, gelten durchaus als Überraschungspakete der Kunst. Aber genau das macht den Reiz nach Betrachtung von Performances immer wieder aufs Neue aus.

 

Am Bahnhof Giswil wird man abgeholt. Zum Glück denkt man sich, ist es doch ein ziemliches Stück zu Fuss bis zur Turbine und der faule Städter hätte dazu lieber das Auto genommen. Aber Treffpunkt Bahnhof Giswil ist Treffpunkt Bahnhof Giswil. Genügend Leute, die aussehen als würden sie wandern gehen wollen, vereinen sich zu einer homogenen Masse. Man kennt sich. Man begrüsst sich. Abgeholt wird man von der neuen Festivalleiterin Andrea Saemann höchstpersönlich. Ein paar Leuten wird ein Programm in die Hand gedrückt.

Mit im Schlepptau sind zwei alteingesessene Giswiler, die in einer 60-minütigen Dorfführung den (inter)nationalen Gästen ihre Heimat (den Giswiler Ortsteil Rudenz) näherzubringen versuchen. Tendenziell schwere Kost schon zum Anfang.

Eine Stunde zuhören? Ist das die richtige Vorbereitung auf mehrere Stunden Performance-Kunst? Zumal einer der Führenden, Herr Walter Zünd, sich auch nicht ganz bewusst ist, was er genau damit anfangen soll. Aber siehe da, die Leute hören zu, laufen mit und können sich bereits ein bisschen kennenlernen. (ms)

 

Weiter geht es im Gänsemarsch, die Kompassnadel ist in Richtung Turbine gestellt. Da sitzen ein paar Leute unter einem Baum, ein Regenschirm hängt verkehrt herum und schon beginnen Einige, sich zu fragen, ob man nun schon in die Performance «Feldraum» von Suzana Richle und Sara Luescher reingewandert ist. Auf jeden Fall stehen ein paar Leute im Feld herum. Ein Geselle oder Wanderjunge, der optisch an einen Grossstadthipster erinnert, beginnt mit akustischen Signalen auf einer Art Maultrommel. Eine Dame pflückte (oder setzte) irgendetwas. Eine weitere lag im Gras. Mit fortschreitender Zeit zog die Ratlosigkeit in die Gesichter der Besucherinnen und Besucher. Der Griff zum Programm wurde notwendig, um vielleicht eine Inhaltsangabe oder Zeitdauer ausfindig machen zu können. Was auffällt, die beiden Künstlerinnen Richle&Luescher müssen eine ganze Entourage an Statisten beauftragt haben, um innerhalb der Besucherwandergruppe für Verwirrung zu stiften. Das sah dann so aus: Jemand fotografierte wahllos Wolkenformationen, jemand joggt durch die Gruppe hindurch, eine Dame mit zwei Geissen kreuzt den Weg etc. Vermeintlich natürliche Handlungen als Beigemüse einer äusserst offenen performativen Handlungsebene. Der Spannungsbogen wollte nicht so recht ausschlagen und da kam der Pfiff aus Richtung Turbine gerade Recht, um ihn als Signal des „Hey, es geht weiter!“ zu interpretieren.(ms)

Marta Kotwicas Performancekunst ist gezeichnet von der direkten Interaktion mit dem Publikum. Um das Handgelenk gewickelte Schnüre, die sie durch gestische Aufforderung von einzelnen Zuschauern abwickeln und an ihren eigenen Handgelenken festmachen lässt, führen das Publikum zu einem Bach, wo Marta sich abschliessend unter einen kleinen Gebirgswasserfall stellt. Für das in die Aktion einbezogene Publikum wird die Kälte des Wassers durch die Mimik und Gestik der Performancekünstlerin unmittelbar erfahrbar. Als ausserkünstlerische Bedingung der Performance dient der umgebende natürliche Raum, der als Bindeglied der Vorführung die Beziehung zum Betrachter neu definiert und entscheidend mitgestaltet. (jw)

Weniger dem Raum zugewandt, dafür aber gleichwohl mit dem Publikum spielend, gestaltete die Polin Ewa Zarzycka ihre Performance. Sie selbst meint zu ihren Happenings: «Es erfasst mich wirklich mit Panik, wenn ich im Vorfeld sagen soll, was ich machen werde. Vielleicht schaffe ich es mit Mühe gerade noch zu bestimmen, wer meine Performance filmen soll und in welchem Feld ich mich bewegen werde und wie lange es in etwa dauern könnte.» Diese Unbestimmtheit und das Heranziehen des Publikums als Protagonisten zeichneten ihr Aktionsgeschehen aus. Anhand narrativer Szenen skizzierte sie die Diskrepanz zwischen naturwissenschaftlichem und künstlerischem Denken nach und verband diese geschlechtsspezifisch miteinander. So lenkte die Präsentation des künstlerischen Denkprozesses auf überraschende Pointen und die Geschehnisse des alltäglichen Lebens. (jw)

Dorothea Schürch formte ihre Darbietung mehrheitlich mit ihrer Stimme. Mal sichtbar, mal versteckt artikulierte sich stimmtechnisch ein Knistern und Gurgeln. Symbolisch wurde so die umgebende Luft des Raumes in ein Megaphon eingezogen. Das darauffolgende plötzliche Verschwinden der Künstlerin aus der Turbine Giswil, stellte das Geräusch mit seiner Akustik in den Mittelpunkt, welches schliesslich völlig verebbte und die wirklichen Geräusche der Umgebung Giswils neu wahrnehmen liess. (jw)

Grosser Hunger kam auf und die Besucherinnen und Besucher (ohne Laktoseintoleranz) spachtelten fleissig Älplermagronen mit Apfelmus und Salat. 1.5 Stunden Pause. Zeit, um wieder viel zu Reden und bisschen Wein trinken. Ein kleiner Rest nutze diese Gelegenheit um nach Hause zu gehen. (ms)

Nun folgte der Auftritt der ehemaligen Festivalleitung. Monika Günther und Ruedi Schill, die mit viel Herzblut International Performance Art Giswil über ein Jahrzehnt kuratiert haben, stehen am einen Ende der Turbinenhalle. 80 Meter von ihnen entfernt sitzen wir, das gespannte Publikum. Die beiden, stets in schwarz gekleideten, arrivierten Performer stehen vor einer Beamer-Projektion. Das Markenlogo des Beamers tänzelt vor sich hin, so dass eine Sitznachbarin die Bemerkung nicht verkneifen kann: «Esch dä Beamer kaputt?». Natürlich nicht. Nach einem kurzen Moment erscheinen die Silhouetten von Günther&Schill. Sie berühren sich gegenseitig mit den Händen, es kommt zu Streicheleinheiten, Liebkosungen, aber kein ersichtlicher Kuss. Das reale Paar steht mit Achtungsabstand voneinander entfernt und bewegt sich allmählich in die Richtung des aufmerksamen Publikums. Meeresrauschen begleitet ihre Bewegungen. Ruedi Schill läuft, taumelt, tänzelt und scheint mit einem inneren Schweinehund zu kämpfen oder an Unterzuckerung zu leiden. Monika Günther wirkt ruhiger, ausgeglichener, aber ebenso ratlos in ihren Gesten. Die Gegenüberstellung der relativ intimen Videoprojektion und dem realen Vorwärtsgehen ohne einen Blick auf den Partner zu richten ergibt zwar ein poetisches Bild, das aber von den kleinen Körpergesten ablenkt. Kennt man die Vorgeschichte, lässt sich der Gedanken nicht negieren, dass ihre Performance etwas mit dem Abschiednehmen von der Festivalleitung und der Turbinenhalle zu tun haben könnte. (ms)

Andrea Saemanns Stimme ertönt aus dem Off und sagt die nächste Darbietung an. Ein Herr Langensand betritt den Raum. Mit einem viereckigen kleinen Koffer in der Hand und dem auswendig gelernten Satz auf den Lippen: «Heute Abend spiele ich etwas vor. Ich wollte etwas Jazz- oder Tangomässiges spielen. Dafür braucht es aber andere Algorithmen.» Folglich beginnt er am anderen Ende der Turbinenhalle auf seinem Handörgeli ein paar Stücke Hudigäggeler zu spielen. Und nochmals zwei Leute betreten den Raum, gekleidet wie Helfershelfer an Festivals. Nervös, unstrukturiert und den Eindruck vermittelnd, als hätten sie die Aufbauphase verpennt, verfrachten sie Computer, Kabel, Drucker, Beamer, noch mehr Kabel, Papier, Mikrophone, und nochmals bisschen mehr Kabel und Lautsprecher in den Raum. Thomas Köppel und Nina Langensand nennt sich das Performanceduo, das sich stets nicht vor einem gewaltigen Materialaufwand scheut. Das Publikum wird zuerst einmal in Unwissen gehalten. Man konzentriert sich auf das Köppel‘sche Klebeband am rechten Knie und die Langensand‘sche Hosenrutschpartie. Anstatt 24 Rollen Klebeband hätten sie das Geld lieber in einen Gürtel investiert. Die Mikrophone beginnen zu funktionieren. Was sie dem Publikum sagen wollen, wissen sie selber nicht so genau. Man versteht sie ja sowieso kaum, da Herr Langensand ununterbrochen Hudigäggelerperlen zum Besten gibt. Aber muss man überhaupt etwas verstehen? Zweifel werden immer grösser. Sie erzählen uns durch die Blume, dass sie ursprünglich etwas mit ganz viel Klebeband und den schwarz/weissen Plättli des Turbinenbodens machen wollten. Etwas abkleben oder so. Etwas ausmessen oder so. Irgendwann hat man aber genug von der geplanten Planlosigkeit und man fühlt sich leicht verarscht. Aber das eingangs erwähnte Überraschungspaket der Performance Kunst beginnt hier zu greifen. Veräppeln sie uns? Haben sie wirklich nichts geplant? Sind ihre Ideen tatsächlich schon gescheitert bevor sie realisiert wurden? Keine Ahnung. Als Erklärungsversuche stammeln sie Satzfragmente von den Papieren, die ein Drucker ausgespuckt hatte und erzählen uns etwas von Algorithmen, Facebook, Streaming-Dienste, technischem Overkill, Kommunikationssysteme und Computerfirlefanz. Die Hälfte des Publikums lacht amüsiert, die andere Hälfte sehnt wohl das Ende herbei. Ob die Kontextlosigkeit gewollt war, ist zu hoffen und tendenziell auch zu glauben. Ein schöner Satz zum Ende: „ Der Computer springt nie über den Schatten seiner Algorithmen.“

Dann werden alle Besucherinnen und Besucher aus der Halle gejagt, damit Przemyslaw Branas seine Bananen aufhängen kann. Betritt man die Halle erneut, sitzt der Pole auf einem Stuhl, seine linke Hand ist silbern und die Bananen schwingen vor und zurück. Betört vom Duft der Bananen, die mit einer aromatischen Lösung zusätzlich geschmacklich verstärkt wurden, ergab sich für den Zuschauer ein ikonisches Bild. Dieses entwickelte sich noch intensiver, als der Performer eine Maske mit zusammengetackerten Bananenschale über sein Antlitz stülpte. Der Bananenhaufen wurde wieder in Schwingung versetzt und Branas begann in gekrümmter Haltung seine silberne Hand mit Zeichensprache und Fingergestik einzusetzen. Wohl für viele ergab sich in diesem Moment ein traditionelles Bild einer Performance. «domina(c)tion of space» nannte sich das ganze Prozedere, das mit einem schrillen Pfeifton aus einer weiteren Maskerade ertönte. Dazu wechselte der Performer abermals die Hallenseite und verschwand urplötzlich und liess seine Bananen als Ephemera übrig. Was zusätzlich das Interesse des Publikums weckte. (ms)

Schlussendlich gab es noch eine Filmvorführung als Stellvertretung für den gewünschten, aber leider im Vorfeld ins Wasser gefallenen, Auftritt von Oskar Dawicki. Zusammen mit drei Freunden sitzt er in einem Hinterhof/Waldstück. Sie rauchen und sinnieren über etwas, das sie machen könnten. Es sollte wohl Kunst werden. Ein Pferd malen? Oder ein Quadrat und ein Viereck vielleicht? Oder etwas umbringen? Oder gar etwas dokumentieren, das es gar nicht gibt? Der Videotitel «Everything has been done» lässt erraten, dass alle ihre Ideen längst als wurde bereits gemacht abgestempelt werden. Trotzdem ist die Aktion der Grupa Azorro um Oskar Dawicki, Igor Krenz, Wojciech Niedzielko und Lukasz Skapski kongenial in ihrer Einfachheit und die lausige Qualität der Aufnahme passt sowieso zur ganzen Szenerie. Dass nach ¾ der Laufzeit das Video den Geist aufgibt, ist gewissermassen sinnbildlich für den ersten Tag des Performancefestivals. (ms)

Fazit Juliette Weiss

Dem ersten Performancetag fehlte eine stärkere Gliederung der aufeinanderfolgenden Darbietungen, wo im Gesamten ein grösserer Aktionsbezug wünschenswert gewesen wäre. Die Anlehnung an die darstellenden Künste Musik, Theater und Tanz war für das Publikum spür- und erfahrbar. So zeigte das Performancefestival Giswil neue Mischformen der Kunst, die gerade bei Darbietungen, wie der Polin Ewa Zarzycka und ihrer thematischen Hinwendung zum Alltag neue Möglichkeiten künstlerischer Produktion entstehen liessen. Abschliessend stellt sich die interessante Frage, wie sich die künstlerischen Phänomene weiterentwickeln und welche Rolle das Performancefestival Giswil künftig darin einnehmen wird.

Fazit Michael Sutter

Der erste Performancetag fühlte sich an wie ein erbitterter Kampf zwischen Sinus und Kosinus. Mal auf, mal ab, mal heftig aufeinander prallend, mal meilenweit voneinander entfernt. Positiv war sicher die auffallend hohe Anzahl an Besucherinnen und Besucher, die sich die grosse Portion Performance Kunst in Giswil gönnten. Hoffentlich bleibt die hohe Frequenz an interessierten Personen auch für die Resonanzgespräche und das Netzwerktreffen von PANCH bestehen.

Die Zugfahrt nach Hause war indes witzig. Zwei mittelmässig alkoholisierte, aber durchaus sympathische, deutsche Mittbürger sind auf dem Weg ans Oktoberfest… in der Eishalle Luzern. Und man fragt sich, ob das wohl auch eine Performance gewesen sein mag. Cheers!