Triumphale Rehabilitierung eines problematischen Auftragswerks – Luzerner Theater: «La Clemenza di Tito» von Wolfgang Amadeus Mozart

Vera Nemirova hat bereits früher dreimal am Luzerner Theater inszeniert. Mittlerweile hat sie eine internationale Karriere gemacht und gehört zu den spannendsten jungen Regisseurinnen auf europäischen Opernbühnen. Jetzt ist sie für eine spektakulär gelungene Produktion von Mozarts problematischem Spätwerk «La Clemanza di Tito» zurückgekehrt.

Vera Nemirova liest Operntexte immer wieder ganz genau und denkt sich psychologisch scharf und hellsichtig in Charaktere und Situationen hinein. So auch bei diesem «Tito». Das zerquälte Stück um einen verblasen grossherzigen, nervig gutmenschigen Kaiser und die operntypisch blödsinnigen Intrigen und Stimmungskapriolen seiner Hofschranzen erweist sich plötzlich als ganz und gar stimmig und brisant, weil die Regisseurin die psychische Dynamik dieser Handvoll Menschen und damit das Bühnengeschehen ganz von der Figur des Kaisers her aufzäumt. Das ist sehr klug, und plötzlich macht das dröge, scheinbar so appellative und moralinsaure Werk auf der emotionalen Ebene Sinn. Ein einsamer, unreifer, tief unglücklicher und unfreier Mächtiger pervertiert alle Verhältnisse und Menschen in seiner Umgebung. Der selbstgefällige Narr, der beständig gross von seiner Milde faselt, merkt nicht, wie er alle um sich herum psychisch zerstört. Der erste Auftritt dieses Tito ist ein doppelter. Der Erste, der zum Pompmarsch mitten durch den Chor hindurch an die Rampe tritt, erweist sich im Nachhinein bloss als der oberste Leibwächter Publio, eine Nebenfigur, die von der Regie zum mausgrauen aber mächtigen Strippenzieher im Hintergrund aufgebaut wird, der bei handfesten Verhören auch liebend gerne mal selber kräftig zupackt. Der aschgraue, omnipräsente Bürokrat ist in dieser byzantinischen Hofwelt das eigentliche Machtzentrum. Und erst nach dem aaligen Grausling Publio tritt Kaiser Tito selber auf: ein effeminierter Kindskopf im weisser Hochzeitskleidchen, eine Figur wie aus einem Römerstück von Dürrenmatt oder einem Sandalenfilm über die Dekadenz von Kaiser Nero. Mit solch karikierender Vereinfachung einer Figur aber ist es bei Vera Nemirova längstens nicht getan. Alles und alle erweisen sich hier als vielschichtig, interagierend, handelnd wie manipuliert, bewegend bewegt. Des Kaisers kindisches Kleidchen erweist sich in der Folge als das Brautkleid, das dieser immer wieder liebend und hoffend nahezu jeder Frau des Stückes nacheinander anträgt, und in das gekleidet, gepanzert, er ganz am Schluss dann doch allein auf der Bühne zurückbleibt. Dieses Hochzeitskleid ist eine der ganz wenigen, aber höchst bedeutungsvoll und in wechselnden Situationen und Zusammenhängen eingesetzten Requisiten, die gerade durch ihre Spärlichkeit und Schlichtheit so überzeugend wirken: ein Brautkleid, ein Strauss Rosen, ein stumpfes Messer, ein Bonsaibäumchen. Die Rosen werden von der seelisch wohl pervertiertesten Figur, der Intrigantin Vitellia, zu Beginn des Abends eingesetzt, um den ihr hörigen Sesto zum Mord an seinem besten Freund, dem Kaiser, anzustacheln. Sie liegen dann unbeachtet, aber schön arrangiert auf dem Bühnenboden, um am Schluss vom Kaiser selbst aufgenommen zu werden, um just dieser Vitellia die Ehe anzutragen. Das ist so schlicht wie genial. Schlicht, genau, genial ist auch die kleine Szene, wo ein gewisser Annio seiner Geliebten die Nachricht überbringen muss, dass der Kaiser nunmehr sie zu heiraten gedenke. Ausgerechnet er muss das tun. Langsam zieht er der Geliebten das Kleid aus – und wir Zuschauer denken einen Moment lang, dass er nun seiner Leidenschaft freien Lauf lasse. Aber dann ist es doch wieder nur das Brautkleid, das auch diese Servilia verpasst bekommt. In solchen gleichzeitig vollkommen natürlichen, schlichten und daher glaubwürdigen, trotzdem aber bedeutenden und intellektuell wie emotional aufgeladenen Personenführungen ist Vera Nemirova eine Meisterin. Sie macht Situationen menschlich verständlich, einfühlbar, «aktuell». So läuft Oper ab wie gutes Sprechtheater und erfüllt weit jenseits von dümmlicher Grossgestik à la Verona, oder Metropolitan Opera ihren eigenen Anspruch, ein «Gesamtkunstwerk» zu sein. Es gibt im «Tito» eine Verhörszene, welche in Luzern an einem kleinen Tischchen unter greller Glühbirnenbeleuchtung die Begegnung zwischen Kaiser und Verräter, zwischen zwei ehemaligen Busenfreunden bringt. Diese Begegnung ist musikalisch ein Rezitativ, also schlichteste Akkordbegleitung, wobei diese Rezitative im «Tito» noch nicht einmal von Mozart und in der Tat qualitativ absolut unterdurchschnittlich sind. Aber mit welcher Spannung folgt man diesem Psychodrama zweier Verunsicherter und Verzweifelter! Solch natürliches, überzeugendes Schauspiel setzt Nemirova in Kontrast zu den hochästhetisierten, durchstilisierten Szenen des byzantinischen Hofrituals, wobei vor allem hier die schlicht-schönen Bühnenelemente von Werner Hutterli (Fackeln, Lichtkegel) zum Tragen kommen. Der Kaiser hat sich am Ende selber als ein Gefangener erwiesen; aufgeschreckt aus seiner realitätsfernen Kinderwelt, entscheidet er sich schliesslich willentlich zu der Milde, in deren Ruf er vorher aus lauter Albernheit und aus propagandistischem Kalkül des Publio gestanden hat. Damit aber realisiert er auch seine Einsamkeit in der Welt der grauen Schreibtischtäter und der weniger grauen Folterer, mit denen diese identisch sind. Es ist hocherfreulich zu sehen und zu hören, in wie hohem Masse die Sängerinnen und Sänger – notabene samt und sonders neuere und ältere Ensemblemitglieder des Luzerner Theaters! – ihre anspruchsvollen Aufgaben sängerisch und darstellerisch zu sehr gutem Gelingen führen. Dass es sorgfältige Regisseure immer wieder fertig bringen, Opernsänger zu guten Schauspielern zu formen, beweist, dass an Met und Scala, in Verona und Manaus eben doch einfach gedankenlos und schludrig gearbeitet wird. In Luzern stimmt alles rundum. Auch sängerisch erweist sich das Ensemble als sehr gut bis verblüffend, was wohl auch damit zu tun hat, dass es sich in diesem Repertoire quicklebendig, frei und souverän fühlen kann. Utku Kuzuluk in der Titelrolle und Marie-Luise Dressen in der Hosenrolle des Sesto ragen aus dem im grossen Ganzen auf hohem Niveau homogenen Kollektiv heraus. Dort, wo Mozart auf die halluzinatorische Idee kommt, eine Sopranistin so weit in die Höhe und in die Tiefe zu führen, als wäre diese die Klarinette, die gleichzeitig als solistisches Begleitinstrument von zuunterst bis zuoberst dudelt, kann man sich nur wundern, wen der Meister denn wohl seinerzeit zur Verfügung gehabt hat, niemals aber einer Sängerin einen Vorwurf machen, die dann allenfalls nicht alle tiefsten Töne noch kraftvoll hinbringt. Was den Dirigenten Howard Arman und das Luzerner Sinfonieorchester angeht, so zeichnet sich ab, dass diese zumindest bei ihrer Arbeit im Theatergraben einen Stil der Behutsamkeit, Sorgfalt, Bedächtigkeit und weniger der Dramatik, des «Drive» pflegen, wie dieser in den letzten Jahren gerade für Mozart Mode geworden ist. So wird auch diese verhaltene, ruhige Musik des späten Mozart ausgekostet und ausgestaltet. Es ist ein lyrischer Ansatz, der dann tragen kann, wenn die Details der Partitur so klangschön zum Leuchten gebracht werden, wie das im Falle des Luzerner «Tito» meistens der Fall ist. Der zeitintensive Ansatz bei den Arien und Ensembles zusammen mit den offenbar ungestrichen vorgetragenen Rezitativen funktioniert aber wiederum nur deshalb ohne Spannungsabfall, weil eben die Regie in jedem Moment ihr Stück zu tragen weiss. Der Applaus war für Sängerinnen und Sänger donnernd. Offenbar aber haben nur ganz wenige Zuschauer bemerkt, was für eine gelungene Arbeit die Regie hier abgeliefert hat. Der Beifall für das Regieteam war durchaus endenwollend.

Bis 9. Dezember 2012 am Luzerner Theater