Singt die Lieder!

Die Sommerbeiz im Treibhaus hat den Sommer durch dafür gesorgt, dass wir kulturell nicht ganz abhängen. Es spielten u. a. Ophelia's Iron Vest, Montagssession, Count Gabba. Vorgestern gab sich die Bernerin Steff la Cheffe die Ehre, gesponsert war dieses Konzert vom Barbès, das seine eigene Konzertreihe ja abbrechen musste. Und gestern stand ein Liederabend auf dem Programm. Ein Liederabend mit nicht ganz unbekannten Akteuren.

Canaille du jour, Schuft des Tages, nennen sie sich. Man gibt sich ja gerne etwas verrucht, nicht wahr? Sie sind der Luzerner Musiker, in diesem Fall Pianist, Christov Rolla und der Wupperthaler und Wahlkrienser Kulturtagelöhner Max Christian Graeff. Und wäre diese Welt eine gerechte, wäre Graeff ein gefeierter Entertainer und Rollas Lieder ellbögelten sich an die Spitzen der Charts und man sänge sie an Lagerfeuern. Okay, vielleicht ist es auch bloss schlechtes Timing. Denn im Gegensatz zum grossen Rest widmen sie sich voll und ganz der europäischen Liedtradition, dem Erzählen von Geschichten, dem Feiern des Lebens, des Suffs, der Liebe und des Kummers, der aus ihr entspringt. Abseits von «Baby, baby, baby, oh» und «Popo-Pokerface» hat man es hier mit Liedgut zu tun, das man gemeinhin (törichterweise) unsterblich nennt. Zumindest werden sich diese Melodien und Worte halten, solange es Menschen gibt, weil die Existenz darin radikal auf ihre Essenz heruntergebrochen wird. Begonnen mit «Ausgerechnet heute abend», durch das Coco-Schumann-Ensemble bekannt geworden, dann ein Schwenker zum französischen Chanson «Rififi» aus dem 1955er-Film «Du rififi chez les hommes» von Jules Dassin. Das original Frankophone wird in Deutsch um die Ohren gehauen – in Übersetzung von Max Christian Graeff. Sein besonderer Übersetzungsstil, der in Fachkreisen auch «Jovialer Russe» genannt wird, entwickelten die Herren R. D. Brinkmann und R. R. Rygulla im «année érotique» 1969. Höhepunkt des Abends ist das eingedeutschte «Fais moi mal, Johnny» des genialen Enfant terrible Boris Vian, der mir mit «J' irai cracher sur vos tombes» meinen Wunschtitel für meine Autobiografie wegschnappte. Bemerkenswert ist, dass zwischen all diesen musikalischen Fixsternen auch die von Christov Rolla geschriebenen Song («Seemann», «Mungo», letzteren kennt man evtl. noch von seiner letzten Theaterproduktion) überhaupt nicht abfallen, im Gegenteil! Sie kuscheln sich geschmeidig ins Gesamtset, als würden sie seit seit Jahrzehnten nichts anderes tun. Überhaupt dieser Spannungsbogen: Das nachdenkliche, waidwunde «Im Rauch» (original: «Dans La Fumée») setzt sich auf die Bank neben Kreislers Mädchen, das «Drei blaue Augen» hat und sie verstehen sich prächtig. Nach «Amsterdam» jedoch will jemand jemanden verlassen und Rolla brilliert in seiner Übersetzungsfeuertaufe von Jacques Brels «Ne mes quitte pas» bis «I Put a Spell on You» dazwischen prescht, dreckig und hypnotisch wie eh und je. (Randbemerkung: Ein bedeutender Luzerner Kulturjournalist sah den Schöpfer dieses Songs, Screamin' Jay Hawkins, anno dazumal live in der Schüür (!). Hinweise werden in der Kommentarfunktion des Blogs entgegengenommen. Die erste Person, die den richtigen Namen errät, erhält eine Tafel Milchschoggi.) Mit der raren deutschen Version des von Serge Gainsbourg geschriebenen und France Gall interpretierten «Poupée de Cire, Poupée de Son» («Das war eine schöne Party») hätte man dann auch einen absolut fantastischen Schlusspunkt gesetzt. Hätte. Wenn da nicht die Zugabe gewesen wäre, für die sich Graeff, bereits bevor man zu spielen begann, entschuldigte und die auf dem Cimetière du Père Lachaise in Paris heftige Eruptionen ausgelöst haben dürfte. Bitte macht das nie wieder. Und an alle, die sich wundern, dass Haller nun bereits zum zweiten Mal in Folge in den Himmel lobt: Ich kann beruhigen. Das ist nicht Altersmilde. Das war beides bloss das Glück, am richtigen Ort gewesen zu sein.

Als kleines Supplement die Setlist, mit You-Tube-Links zu den Originalsongs (falls vorhanden): # Ausgerechnet heute abend # Rififi # Bang Bang # Seemann # Johnny remember me # Johnny, wenn du Geburtstag hast # Fais moi mal, Johnny # Drei blaue Augen # Im Rauch # Mungo # Amsterdam # Ne me quitte pas # I put a spell on you (& hier ein grandioses Cover von Marilyn Manson: I put a spell on you) # Poupée de cire, poupée de son Zugabe: # The End Heute Samstag und morgen Sonntag finden in der Treibhaus-Sommerbeiz weitere Konzerte statt. Mehr dazu siehe hier.