Meuchelmord hat seit Hannibal Lecter nicht mehr so gut gemundet

Neustädtli Luzern, 21.11.2015: Die legendären Chamber Nihilists luden zur Taufe ihres neuen Videos ins Neustädtli. Ein wohlig schauriger Abend in ausgefeiltem Ambiente und mit Blutsuppe.

(Von Girafo Gondolfsky)   

chamber1

Zwischen April 1888 und Februar 1891 kam es in London zu einer Serie von brutalen Frauenmorden, den Whitechappel-Morden, von denen mindestens fünf dem berüchtigten Jack the Ripper angelastet wurden. Der Täter wurde nie gefasst – seine Untaten allerdings beflügeln die Populärkultur bis heute. Die Chamber Nihilists, Rock ’n’ Roll Time Machine und grell leuchtender Fixstern am Luzerner Lo-Fi-Cover-Himmel, haben nun ihre Ressourcen kombiniert und ein wunderbares Video zu ihrer Interpretation von Screaming Lord Sutchs* grossem Song «Jack the Ripper» gedreht. Um dieses rare Ereignis gebührend zu feiern, haben sie keine Kosten und keinen Aufwand gescheut: Das Neustädtli verwandelte sich flugs in «The Ten Bells», ein viktorianisches Public House im Londoner Stadtteil Spitalfields, wo zwei der Opfer des historischen Rippers verkehrt hatten; vor der Tür begrüsste einen ein Sarg (der im Video eine kurze, aber rasante Rolle spielen wird), die Tischsets wurden eigens mit Ripper-Verdächtigen und den Briefen des Rippers bedruckt, die Servietten mit Sagarins köstlicher Ripper-Fratze gestempelt, während man sich auf den Toiletten anhand zeitgenössischer Tabloids über den aktuellen (i. e. 1891) Stand der Ermittlungen orientieren konnte.

chamber8

Das Personal war stilecht gekleidet und sah (ach, Birte!) hinreissend aus, und genauso hinreissend (resp. hergereist) war das Essen: Es wurde ein wirklich geglückter traditioneller englischer Viergänger serviert, mit einer «Blood Soup» (Randen), Fish and Chips, dann wahlweise Roastbeef, Lamm oder Jack the Rippli, gefolgt von Bread Pudding.

chamber4

Zwischen den Gängen das angekündigte Variétéprogramm: Die Kammernihilisten – Sänger Rene Sagarin, Gitarrist Dizz Chambers und Schlagzeuger Nihils Spool – paradierten in Marschformation auf mit Klarinette, Posaune und Melodica, dabei sehr schön das ohnehin minimalistische «Charlotte» von den Young Gods aufs blosse schräge Gerüst reduzierend, quetschten sich auf die eigens in eine Fensternische gebaute Kleinstbühne und intonierten, nun mit den Stamminstrumenten, Lieder aus ihrem Programm. Der sehr beschränkte Raum forderte seinen Tribut: Weder Bassdrum noch Sampler fanden Platz, und der kleine Fender-Röhrenamp leistete vielleicht zehn Watt – doch das war genau richtig so in dieser ausverkauften Beiz, schöner hat Lo-Fi kaum je geklungen. Allerdings beschränkte sich der Nihilismus auf die sehr reduzierte Instrumentierung: Sänger Sagarin (Sangarin? Im erstens Set als Ripper-Opfer Renate zumindest Sängarin) zeigte sich als unter Hochspannung stehendes Energiebündel – welche Verve, welch Furor! Was für Register der Mann mittlerweile zu ziehen vermag! Das gurrte, brüllte, flüsterte, betörte, gurgelte, orgelte und falsettierte, dass einem die Freudenschauer das Rückgrat runterrieselten. Die dem Original entsprechend dünn klingende Gitarre (eine schöne Duesenberg) und das Stehschlagzeug aus lediglich Glocke, Snare und Hi-Hat, von Chambers und Spool mit unvergleichlich nonchalantem Stoizismus bedient, kontrastierten das Stimmengewitter aufs Vortrefflichste. Hingewiesen sei an dieser Stelle speziell auf das vielleicht beste Cover von Höslis «Einbrecher»: Sagarin bringt das tatsächlich, Hösli-Timbre und alles. Respekt.

chamber5

So gingen drei Gänge und zwei Sets dahin, aufgelockert von Sagarin in bester Erzähllaune und, ganz dem Variétégedanken entsprechend, mit zwei ganz abscheulich brutalen Messertricks – und dann endlich das Video: --- SPOILER ALERT!! ---

sagarin

Die Titelfigur (fürwahr beängstigend verkörpert von Rene Sagarin) donnert in einem Sarg über eine verschneite, bedrohlich nachtdunkle Bergwiese in die Stadt, wo der Ripper bald sein Opfer trifft (Renate, fürwahr verführerisch verkörpert von Rene Sagarin); es entbrennt eine wilde Verfolgungsjagd durch die Stadt (wobei kaum Locations ausgelassen werden, Schlüsselszenen finden beispielsweise im Spiegelgarten statt), stets begleitet wie von einem klassischen Chor durch Chambers und Spool an Mandoline und Handörgeli – ganz entgegen der traditionellen Unbeteiligtheit des Chors aus der griechischen Tragödie greift dieser aber am Schluss handfest ein, erschlägt den Ripper mit der Mandoline und versenkt ihn in den eisigen Wassern, um dann mit Renate zu den Klängen von «Charlotte» dem verschneiten Horizont entgegenzuziehen.[spacer height="20px"] Ein gelungenes grausliges Produkt, in Szene gesetzt von Thomas Horat und gefilmt und geschnitten von Luzius Wespe. Aufgenommen wurde der Song von TJ Spool mit einer Tascam-Vierspurmaschine (ja, die mit den Kassettli), was für einen typischen dicken, stark mittelastigen Klang sorgte – und hier erwies sich die der Engnis geschuldete spärliche Live-Instrumentierung als pfiffiger Zufall: Der klanglich deutlich dichtere Soundtrack des Videos garantierte diesem auch akustisch den Höhepunktcharakter, den es verdiente. Neben «Jack the Ripper» haben die Chamber Nihilists noch drei weitere Lieder aufgenommen, es gibt sie in einer auf 50 Stück limitierten Kassettenversion zu kaufen oder (für die wenigen, die tatsächlich kein Tapedeck mehr zuhause im Hi-Fi-Turm haben) gratis hier als Download. Nach dem Brotpudding spielte TJ Spool hinter seinen Revox-Bandmaschinen zum Tanz auf – mögen die dicken Mitten noch lang erschallen!  

chambers2

* Ja, ich weiss, der Song ist nicht von Lord Sutch. Aber seine Version ist schon sehr läss.