Man weiss nicht so genau, weshalb … Sophie Hunger im Südpol und in der Schüür

Seit ihrem ersten Album, «Sketches on Sea» 2006, ist sie der Shooting Star in Schweizer Musikszene: Sophie Hunger. Diese Woche trat sie im Südpol und in der Schüür auf. Pirelli ging in beide Venues – und war nicht nur angetan.

Unaufhaltsam stürmt sie in den Musikolymp, ihre zweite Platte, «Monday’s Ghost», erreichte auf Anhieb Platz 1 der Schweizer Charts, die älteren Herren reissen sich darum, mit ihr aufzunehmen oder aufzutreten, ihre Konzerte sind jeweils Wochen im Voraus ausverkauft: bemerkenswert, was Sophie Hunger in so kurzer Zeit erreicht hat. Und sie setzt auf Innovation: Auf der aktuellen Tournee spielt sie jeweils in zwei verschiedenen Venues – ein theatralisch konzentriertes Sitz- und ein Stehkonzert. Das Publikum im Südpol war entsprechend durchmischt, auffällig viele Paare, viele ältere Semester, natürlich hoher Frauenanteil. Man wurde vom aufgeregten Personal mit Nachdruck in die Halle gescheucht, das erste Lied sei wichtig. Die Bühne war mit Instrumenten und Verstärkern voll gestellt, dekorative Schnurquader hingen von der Decke – und aus den Lautsprechern klang etwas grauenhaft Sphärisches, das einen wohl auf das Konzert einstimmen sollte, aber nur eine Assoziation zuliess: Telefonkabine. Im Handyzeitalter wahrscheinlich eher wenigen bekannt: Fühlt man sich in der Stadt von den einkaufenden Massen gepestet, gehe man hurti in eine dieser runden Glaskabinen – sie wird es einem danken, indem sie einen kurz mit akustischem Instant-Populär-Zen übergiesst, eine nette Erfahrung, und sie dauert nur ein paar Sekunden. Aber als Zwangsvorspiel zu einem Konzert tatsächlich too much. Nun betrat Frau Hunger die Bühne, sang allein ein Mundartlied – und sofort merkte man, weshalb sie so populär ist: Die Frau kann unglaublich gut singen.

Sie wechselt mit grösster Leichtigkeit die Register, von denen ihr eine unendliche Anzahl zur Verfügung zu stehen scheint, kann aus dem Hinterhalt einer zart gehauchten Note Druck geben, dass einem die Wirbelsäule gefriert, hängt spielerisch eine R’n’B-Koloratur an, die einen zum ersten Mal nicht nervt, und hat eine instinktive Mikrofondynamik, wie man sie selten erlebt hat. Die Stimme mag einem gefallen oder nicht, sie ist auf jeden Fall herausragend. Nun Auftritt der Band: Posaunist Michael Flury, Schlagzeuger Julian Sartorius, Bassist Simon Gerber und Multiinstrumentalist Christian Prader, allesamt natürlich stehen sie an Können ihrer Chefin in nichts nach. Sophie Hungers Komposition sind sehr vielfältig, beinhalten sorgfältig austarierte Timewechsel, immer wieder überraschende Harmonien und sind von unerhört präziser Dynamik. Einzig die Liedschlüsse ähneln sich immer gar sehr. Die Leichtigkeit der Stimme wird umgarnt von der wunderbaren gedämpften Posaune; dass Prader allerdings so häufig Kitscharpeggios auf der akustischen Gitarre dazu spielt, nervt auf die Dauer. Die Band muss ungeheuer lang getüftelt haben, immer wieder ergeben sich verblüffende Sounds: zum Beispiel, wenn Prader die zweite Stimme singt und Flury die dritte mit der Posaune dazu gibt. Hab ich in dieser Form noch nie gehört. Überhaupt sind die Harmoniegesänge bemerkenswert, es werden unübliche Intervalle verwendet, es geht immer eine Ecke weiter, als man gedacht hat. Weshalb also liess mich der Vortrag eigentümlich kalt? Man weiss es nicht so genau. Liegts daran, dass alles zu perfekt ist? Auch die Lichtregie ist genau choreografiert und aufwendig, die Optik entspricht der Musik – geschliffen bis ins Letzte. Das Licht folgt der Sängerin sekundengenau, setzt sie schön ins Szene – was aber auch bedeutet, dass da überhaupt kein Freiraum ist für kleine Programmänderungen, dafür, auf das Publikum einzugehen. Die Band wirkt abgehoben, unnahbar, wenn nicht gar affektiert; dass Frau Hunger in einer ihrer sehr spärlichen Ansagen findet, den Südpol habe es aber letztes Jahr noch nicht gegeben, bestätigt den Eindruck der Weltfremdheit. Und dass der Manager mit verschränkten Armen vor der Tür steht und eifersüchtig darüber wacht, dass man ja nur während der kurzen Applauspausen zum Pinkeln geht, ist der Sympathie zusätzlich abträglich. Nun, das Publikum war grösstenteils hingerissen, man will also nicht stänkern. Deshalb ging ich anderntags in die Schüür, um zu schauen, was die Hunger dort, im rockigen Ambiente, für uns in petto hält: ganz einfach – genau das Gleiche. Die gleiche unerträgliche Telefonkabinenmusik; soweit mir ersichtlich, die gleichen Songs in der gleichen Reihenfolge, die gleiche Unnahbarkeit. Das hat mich dann schon etwas enttäuscht. Allerdings nahm mich wunder, zu erleben, wie die gleiche Musik wirkt, wenn man nicht zum Sitzen verdonnert ist, sondern mit Bier und Zigi an der Bar stehen darf – nun, es wirkte sehr ähnlich. Das ist halt einfach nicht Rock ’n’ Roll, was da von der Bühne kommt. Aber es ist grossartige Musik, weswegen – und weil ich mich etwas davor fürchte, dass mir andernfalls erzürnte Hunger-Fans aufs Dach steigen – ich fünf Punkte vergebe. Die eigentliche Entdeckung für mich aber war Hungers Vorgrupperich im Südpol: George Vaine. Eigentlich ein Singer/Songwriter – und man weiss inzwischen hinlänglich, wie wenig ich diesen Nölanten abgewinnen kann. Dieser aber sang nicht nur wunderbar – in einem dylanesken, brüchigen Tenor, der plötzlich ungeheuren Druck entwickeln konnte –, er begleitete sich auch wundertoll: auf einer alten halbakustischen Epiphone, die er mit minimalem Effektaufwand zum Klingen brachte, wie ich es nie gehört habe: Er lauschte auf jeden Oberton und übernahm ihn sogleich in seinen Gesang. Die Stimme ein Genuss, die Gitarre ein ganzes Obertonorchester – hei, ihr ewigen Nölis!, so geht das! Auf diesen Herrn darf man gespannt sein.