Kulturteil @ Himmelrich #2

Im Rahmen der Publikation «Zwischenrich», die Ende Jahr erscheinen wird, dokumentiert Kulturteil.ch zusammen mit mesch.ch und dem Fotografieteam Gabor Fekete/Raisa Durandi die Himmelrich-Zwischennutzung an der Tödistrasse. Hier werden laufend ausgewählte Beiträge publiziert.

Unheimelig

Ich hasse es, wenn ich nach der «Mässitsch» oder der Story eines Theaters oder eines Films gefragt werde. Wenn man die Essenz von etwas auf einer Serviette zusammenfassen kann, wird es schwerlich interessant sein. Natürlich tendiert das neue «Zell:Stoff»-Stück in die entgegengesetzte Richtung: Hier wird einem hyperanspruchsvolles Theater geboten, das eigentlich die logische Folge der letzten Produktion «Draussen die Stadt» (2014) darstellt. «Heim#1» ist Teil der Zwischennutzung «Zwischenrich» an der Tödistrasse und wurde von der Theatergruppe während sechs Wochen erdacht, geschrieben und geprobt. Extrem wenig Zeit für die Erarbeitung eines professionellen Stücks, möchte man denken – «Eingeschränktheit fördert die Kreativität» meint Autor Dominik Busch (Hausautor der Spielzeit 2015/16 am Luzerner Theater) zu den Schranken, welche ihnen die Kürzest-Zwischennutzung setzt. Recht hat er.

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Ich betrete eine fremde Wohnung. Überall blättert die Tapete ab und es riecht nach altem Baugips. Es ist verdammt heiss und spät und ich weiss nicht, wie ich mich verhalten soll oder worauf ich meine Aufmerksamkeit richten muss. Aus dem Badezimmer erklingt die Stimme einer Frau (Julia Schmidt), die offenbar zu mir spricht: «Und jetzt stehst du im Bad und denkst: vielleicht wird das alles wieder besser, vielleicht wird das alles wieder gut.» Die erzählt ihre Geschichte … Halt, nein. Irgendetwas stimmt nicht. Weiter in die Küche, zum zunächst bedächtigen Patric Gehrig, der während des Stücks immer lauter wird: «Du beginnst in der Mitte. Du zeichnest die Kontur nach links und nach rechts zum Lippenrand nach. Erst die Ober-, dann die Unterlippe.» Auch bei Selina Girschweiler, die einen Wortschwall sondergleichen fabriziert, passt nicht alles zusammen. Es wird komplexer, wenn man den Figuren und ihren Geschichten genau zuhört. Dies sind keine einfachen Figurenmonologe wie bei einem interaktiven Museumsbesuch, sondern abstrahierte Erinnerungsfetzen. Gedankengeister, die nicht mehr in den Menschen selber, sondern in den Wänden, Tischen, Betten und Badewannen, die jeden Tag so selbstverständlich angefasst wurden, hausen.

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Diese schwebende Stimmung wird noch forciert durch das passende Bühnenbild der Bildhauerin Saskya Germann, welche die Figuren auf Erinnerungsinseln platziert und den Rest der Zimmer ausfransen lässt. Kevin Graber projiziert zudem im letzten Raum das Ameisenrauschen eines Fernsehers auf die ganze Wand. David Lynch lässt grüssen! In «Heim#1» wird nicht nur die theatereigene Intimität des Zuschauers gebrochen (wie in «Draussen die Stadt»), nein, der Zuschauer wird selber aktiv und bricht in verschiedene Lebenswelten ein, die irgendwie zusammenhängen und doch nichts miteinander zu tun haben. Es ist eine physische und psychische Herausforderung, weil man Zuschauer und Eindringling zugleich ist, auf allen Ebenen agieren muss. Und auch immer wieder auf die Situation als Zuschauer – oder besser: Voyeur zurückgeworfen wird.

Heinrich Weingartner, Fotos: Raisa Durandi  

Die Vorstellungen sind zwar restlos ausverkauft, es besteht jedoch die Möglichkeit einer Warteliste: tickets@zell-stoff.ch Idee, Umsetzung und Künstlerische Leitung: Patric Gehrig; Dominik Busch Text: Dominik Busch Spiel: Julia Schmidt; Selina Girschweiler; Patric Gehrig Video & Technik: Kevin Graber Ausstattung: Saskya Germann Produktion: ZELL:STOFF theaterproduktionen Produktionsleitung: Patric Gehrig