Körper und Klang als pure Poesie

Unfassbar, nicht zu fassen – faszinierend! DisTanz schaffen es mit ihrer jüngsten Produktion «Hüllen», die gestern (Mittwoch) im Südpol Schweizerpremiere feierte, einmal mehr, auch ein nicht tanzaffines Publikum in ihren Bann zu ziehen. Und wie!

Sie brauchen keine Worte für ihre Poesie. Haben sie nicht nötig. Drücken sich in einer Sprache aus, die uriger ist als artikulierte Silben. Letztlich auch umfassender, direkter. Und poetischer. DisTanz sind seit fünf Jahren Beatrice Im Obersteg (Choreografie, Tanz, Szenerie) und Markus Lauterburg (Komposition, Perkussion). DisTanz sind seit fünf Jahren Garant für zeitgenössischen Tanz mit Live-Perkussion, der unter die Haut geht und dort eine zeitlang nachvibriert. Dunkelheit. Dann Licht. Ein Mensch liegt unter einer Folie und Deckmaterial. Liegt regungslos da. Plötzlich geht etwas unter einem Luftkissen daneben. Da war gar niemand. Da ist jemand. Keine drei Minuten und der Zuschauer wurde schon getäuscht von einer inszenierten Illusion. Einer verblüffenden Illusion. Und so geht das weiter. Im Obersteg windet sich unter dem Plastik hervor. Ein Arm, an die Folie gedrückt, dann das Gesicht, hart bespannt. Plaths «Glasglocke», ein Buch u.a. über die Unmöglichkeit eines Individuums, Teil einer Gesellschaft zu sein, asoziiere ich in diesem Moment. Das Scheitern, die Isolation. Aber auch die Geburt. Die Befreiung. Als sich Im Obersteg herausgewunden hat. Lauterburgs Schläge dribbeln, getrieben von aufgestauter Energie. Eine Blumentopf-Symphonie (ja, die machen Töne, wenn man draufhaut) hallt durch die mittlere Südpolhalle. Im Obersteg sitzt da, beim Plastik. Auf einmal ist der weg. So langsam verschwand er, dass man es gar nicht mitkriegte. Simulierter Stillstand als neue Speditivität? Zumindest als Fundament für eine weitere Illusion. «Hüllen», das sich mit den Zwischenräumen beschäftigt, durch die man nach Brüchen in Beziehungen, nach wichtigen Projekten oder fallen gelassenen Zielen navigiert, zeigt den Menschen, wie er ist, wenn er sich nicht länger hinter einer vorgehaltenen Maske verstecken kann. Nackt, schutzlos. Unbeschreiblich poetisch. Jetzt liegen papierne Kokons auf der Bühne. Darin sind papierne Würste. Die Sekunden später Flügel sind. Diese Assoziationen! Diese Fantasie! Dieser Klangteppich von Markus Lauterburg, sekundengenau und bisher unerhört. Wie macht er das? Wie macht er das alles auf einmal? Dann zack! Beatrice im Obersteg beschmiert sich mit leuchtgrüner Farbe, die sie aus dem Nichts gegriffen hat. Das Stück ist zu Ende. Und – das ist das letzte Tüpfchen auf dem i – DisTanz wissen, wann fertig sein soll. Nämlich dann, wenn das Publikum noch mehr sehen will. Um es mit Oscar Wildes Zigarettensatz zu sagen: «(Die Zigarette) ist das vollständige Urbild des Genusses: Sie ist köstlich und lässt uns unbefriedigt.» Wie wahr. Auch für diese Produktion.

Nächste Aufführung: FR 25. November, 20 Uhr, Südpol Luzern