Kastratenarien mit Kleinmädchenstimmchen – Luzerner Theater: «Orlando» von Georg Friedrich Händel

Die Opera Seria «Orlando» könnte, müsste, dürfte, sollte ein zündendes Feuerwerk und Sängerfest sein, ein Multimediaspektakel, das durchbraust und einen berauscht zurücklässt. Dazu aber hat's am Luzerner Theater einfach nicht gereicht. Es war recht, nicht mehr.

Was faszinierte bis hin zu Georg Friedrich Händel an den Kastraten? Dass sie ihre hohen Töne dank dem vollentwickelten Lungen- und Brustkorbvolumen mit erschlagender Kraft, mit mühelosem Glanz oder je nachdem auch in einem weithin tragenden, erfüllten Piano zu produzieren vermochten. Es muss umwerfend gewesen sein. Die Zuschauer klebten wohl mit offenem Mund in ihren Sitzen. Den Kastraten gegenüber traten die Primadonnen, die mit den hermaphroditischen Organen ihrer beschnittenen Partner Schritt zu halten hatten. Dafür waren auch diese Damen berühmt, begehrt und hochbezahlt. Sängerfeste also wurden da abgehalten, Sängerräusche, stundenlange Entfaltungen an Pracht, Virtuosität und Innigkeit. Dem ist in Luzern nicht so. Kastraten singen zwar im Moment gerade keine auf den Opernbühnen der Welt, auch wenn das binnen Kurzem im Zuge der Globalisierung, die ja nicht - wie die moralkeulenschwingenden Vertreter der «westlichen» political correctnes meinen - von uns zum Rest der Welt, sondern von dort zu uns verläuft, wieder der Fall sein wird. Aber es gibt allenthalben starke Stimmen, seien es nun Countertenöre oder Frauensoprane. Im Luzerner Theater hat man sie nicht engagiert und sich statt dessen dazu entschlossen, die Hauptrollen des «Orlando» mit eher dünnen, wenig durchschlagskräftigen, soubrettenhaften, bestenfalls lyrischen Stimmchen zu besetzen. So klingt Arie für Arie wie stark runtergedimmt, lauwarm, schon in der 9. Reihe wie hinter einem Vorhang gesungen. Damit die Stimmen vom Orchester nicht zugedeckt werden, ist der Dirigent Michael Wendeberg gezwungen, in einem beständigen Mezzoforte spielen zu lassen, was dazu führt, dass auch im Orchestergraben mit wenig Profil, Ueberzeugtheit und Kraft musiziert wird. Die Motive der Orchesterbegleitung, die plastisch und sprechend erklingen sollten, wehen kantenlos vorüber, der Einsatz der Wiederholungen wird nicht als Ereignis gestaltet, die einzelnen Arien heben sich wenig voneinander ab und gewinnen kaum ihren jeweils eigenen Charakter, ihren «Affekt», wie das damals hiess. Wer hier euphemistisch eine Not zur Tugend reden wollte, würde wohl einen «lyrischen Ansatz» reklamieren. Sei's drum. Die durchgezogene Verhaltenheit geht an der Idee der Komposition wohl doch eher vorbei. So wird denn auch wenig zum Ereignis. Das harmonisch und formal kühne Rezitativ des wahnsinnig gewordenen Orlando etwa tröpfelte gleichmütig und undramatisch weg. Es wirkte langfädig statt aufgewühlt. Die Zwischenappläuse nach einzelnen Arien waren denn auch von angemessener Flauheit. Zurückgenommen wirkt auch die Regie. Jedenfalls kommt Regisseurin Eva-Maria Höckmayr mit einer einzigen interpretatorischen Idee aus. Es ist die hundertmal schon angewendete vom Spielleiter, vom Demiurgen, vom über dem Spiel stehenden Welten- und Schicksalslenker, als welcher hier der Bassist auftritt. Damit es auch jeder merkt, hat der ein Modell des Bühnenbildes mitgebracht, mit dem er hin und wieder ein bisschen spielt. Es ist das Modell eines Metallgestells auf einer Drehbühne, auf der dann drei Stunden lang eine unmotivierte Kletterei, ein rauf und runter ohne rechten Sinn stattfindet. Mal dreht sich das Ding, mal dreht es sich nicht. Mal wird der Zuschauer durch die grellen Lichtreflexe auf dem Metall geblendet, mal nicht. Ansonsten wird mit dem Gestaltungselement Licht gar nicht gearbeitet. Rund um das Drehding findet viel konventionelle Operngestik und wenig berührende Interaktion statt. Da kraftvolle Emotionen durch die Stimmen nicht ausgedrückt werden können, werden im Verlaufe des Abends auch sehr viele stapelbare Stühle durch die Gegend geworfen. So läuft die Sache vom bedeutungsschwangeren Anfang bis zum abrupten «lito fine» durch. Bereits beim Wiederbetreten des Zuschauerraumes nach der Pause stellt man leicht depressiv fest, dass die Befürchtung, wonach alles genau so weiterlaufe wie vorher, sich wohl bewahrheiten wird. Es ist eine eher einfallslose und vor allem repetitive Regie, die den Abend zusammen mit dem dünnlichen Gesang und flachen Dirigat zum zähen Eintopf verkocht. Da ist wenig Dramatik, wenig Witz und schon gar kein Charme. Es hätte Spass machen können und erreichte doch nur biederes Stadtheaterniveau. So gewinnt halt jede «Aera» eines Direktors ihr spezifisches Gesicht; mal bunt, mal frech, mal unkommunikativ, mal mausgrau. Vielleicht sollte man sich vor dem sommerlichen Theaterumbau überlegen, ob man nicht noch weniger Sitze mit noch grösserem Abstand einplanen will. Die Auslastung würde so noch magischer nach oben schnellen und das Schlafen im Fauteuil noch komfortabler. Wer übrigens einen saftigen «Orlando» sehen und hören will, dem sei die DVD mit der Aufführung vom Zürcher Opernhaus empfohlen.

Bis 17. Juni 2012 am Luzerner Theater