Ikea lässt grüssen, Astronauten-Mönche und ein Alter Wilder im Galopp

Doppelausstellung im Kunstmuseum Luzern – anregend, sehenswürdig, lohnenswert. Der gerade ziemlich angesagte New Yorker Künstler Matthew Day Jackson (*1974) macht in Luzern (zwischen Bologna und Den Haag) Halt auf seiner Europa-Tournee, derweil dem in Luzern geborenen Ernst Schurtenberger (1931–2006) unter dem Signum «ESCH» eine schöne Retrospektive gewidmet ist.

(Bilder: Tobias Ineichen/Kunstmuseum Luzern/Stefano Schroeter)

Malen, Reisen, Reiten – und Sammeln: Dies die lebensdominanten Passionen des Ernst Schurtenberger, den eine gewisse Rastlosigkeit auszeichnete. Gewiss kein einfacher, will heissen: ein eher schwieriger Mensch war Schurtenberger, der exzentrisch-eigenbröterlische, der nach einer offenbar nicht beendeten Schreinerlehre zur Kunst kam, in Luzern, wo er geboren wurde, lebte (u.a. in einer Absteige oberhalb des «Magdi» und in der damals noch nicht renovierten Villa Bellerive), aber auch in Paris, Mailand (als Rennpferd-Zureiter), in Wien wie zuletzt auf dem Dorfe im österreichischen Waldviertel, wo er 2006 auf einem Spaziergang starb. Einblicke in sein Wesen gibt aufs Anschaulichste der Film von Tobias Ineichen (der zweite Luzerner «Tatort») und Bernard Weber (Co-Regie für «Die Wiesenberger», kommt im Februar in die Kinos).1993 ist der Einstünder herausgekommen, nachdem die beiden Luzerner Filmer den Exil-Luzerner Künstler über drei Jahre hinweg besucht hatten, um schliesslich «Tage im Galopp» vorzulegen. Schön, dass der Film als DVD als Zugabe zum druckfrischen Luzerner Katalog zu haben ist (plus in zwei Vorführungen im Kunstmuseum gezeigt wird). Schurtenberger, der Nicht-Einfache, der auch ein Künstler der Akkumulation war. Heute würde man vielleicht Messie sagen. Gerümpel aller Art und sonder Zahl hat er auf dem Hof im Österreichischen angehäuft, darunter oft auch Defektes; in seiner Sammlung alter Grammophone gabs aber auch funktionstüchtige Apparate. Schurtenberger, der Sammel-Maniac, der mit dem Aufbewahr-Fimmel, der «Lagerist».

Schurtenberger war ein Wilder avant la lettre, ein Alter Wilder sozusagen, der mit expressivem Pinselgestus malte, bei den (seltenen) Grossformaten und auf anderen Leinwänden auf Grundierung verzichten konnte, beschwingt und pastos seine Farben auftrug, um Ungegenständliches wie Figuratives zu formen. Die Retrospektive macht Schaffensphasen deutlich in den verschiedenen Jahrzehnten, vom Früh- zum Spätwerk. Wie er etwa, mit entsprechender Milieu-Affinität, die «Dame in Rot» (1985) malte oder bei «Im Salon» (1989/90) offenbar von Typen aus der Luzerner Szene-Beizen-Szene inspiriert war. Und er malte nicht nur nach der Erinnerung, sondern auch, was ihm vor die Augen kam, Gegenstände in Stillleben-Manier, Interieurs, Dinge, Sachen, ihn umgebende Landschaften in einer bestimmten Phase im sogenannten «Rot-Gelb-Blau-Akkord» (wie es der österreichische Gastkurator und Katalogautor Heinz Widauer, auch Schurtenbergers Stiefsohn, ausdrückt), während die bisher eher unbekannten Zeichnungen des Spätwerks nicht selten privatmythologischen Motiven verpflichtet sind. Hier und bereits in Arbeiten aus den 1980er-Jahren ist auch eine verstärkte Zurücknahme der Farbigkeit auszumachen. Zu Beginn der 1980er «nimmt er eigentlich die Neuen Wilden vorweg» (Widauer), die bald Mode werden würden (wo sind sie geblieben?). Im künstlerischen Eigensinn verlässt Schurtenberger herkömmliche gestalterische Pfade und wird sozusagen malender und zeichnender Herr eines autochthonen bildnerischen Universums. Einer geht aufs Ganze Matthew Day Jackson wird in Luzern grosszügiger Ausstellungsraum gewährt, wenn er – die Wände sie von Blau bis Indigo in den Regenbogenfarben eigens bemalt worden – sieben Räume bespielt.

Jackson geht aufs Ganze. Das betrifft nicht nur sein technisches Spektrum: Er malt, fotografiert, filmt, collagiert mit vielfältigsten Materialien, installiert. Seine «Bastelarbeiten» zeugen auch von feinem handwerklichem Flair, etwa auffällig dort, wo er als Relieflaubsägearbeit eine riesige Innensicht auf das Cockpit des Hiroshima-B52-Bombers darstellt («Enola Gay», unter anderem aus Ikea-Holz zusammengezimmert). IKEA goes Kunst: Der gelbe Raum 3 ist ganz vom Möbelhersteller selber gestaltet, als monumentaler Wohnraum mit weisser Sofalandschaft, Lampen, die von der Wand hoch oben herunterhängen, mit Regalen und Vorhängen. Das war die Vorgabe: einen Wohnraum gestalten, in dem an einer Wand ein TV-Flachbildschirm Platz haben muss. Und auf dem Screen laufen Jacksons selbstgedrehte bzw. aus Found Footage zusammenmontierte Folgen einer Dokumentationsserie zwischen Realem und Fake, spielerisch Überhöhtem, bisweilen satirisch Verzerrendem – so etwas wie ein «Mockumentary» mit echten und gefälschten Werbeclips, nebst dem eben «Dokumentarischen», das sich an die real existierende TV-Reihe mit u.a. Moderator Leonard Nimoy («Star Trek»-Spock) anlehnt (wo dieser obskuren Phänomen auf den Grund geht): «In Search of...» ist die Arbeit, die der ganzen Schau den Namen gibt. Jackson, der äusserlich auch als bärtiger Neo-Folkie durchgehen könnte, geht aufs Ganze, weil er scheinbar fast alles verpackt und verarbeitet im eigenen Werk, in Anlehnung, Zitat, Verformung, Kunstgeschichte zuvorderst natürlich, dann Kulturgeschichte, politische Geschichte, Zivilisation, Technik, Architektur, Medizin, Massenmedien und Wissenschaften.

Raum 1 (blau) ist dominiert von einem gigantischen Triptychon, dessen beide Seitenteile in einem bestimmten Winkel von der Wand abstehen. Es ist Grau in Grau und gleichsam eine mondlandschaftliche Widerspiegelung von Claude Monets grossem Seerosen-Triptychon. Eine Kunstreferenz, ein Wahrnehmungsspiel und mehr. Apropos Mond: Gleich rechterhand in Raum 1 hängt die Fotografie eines Neugeborenen in einem Astronauten-Pyjama. Es ist Jacksons Sohn Everett Coleman. Der Künstler selber erscheint auch wiederholt im Bild, fünf Räume weiter, fotografisch inszeniert als Zombie im Sarg, zwei Beine von ihm sind auf einem Scheiterhaufen sichtbar, gegenüber vom Zombie-Sarg der Unsichtbare in einen Sack verpackt; es sind, makaber, Bildnisse des Künstlers als toter Mann («Me, dead at...» plus konkrete Altersangaben). Geburt, Alter, Tod, Schöpfung und Zerstörung – und die Kunst, die uns das alles auszuhalten erlaubt: Das ist im grossen Gedankengang das Zentrale in Jacksons Schaffen, der Kreislauf, die Bewegung, der Lebensfluss, wie das eine mit dem andern zusammenhängt, Erschreckendes und Angst Machendes, aus dem das künstlerisch Schöne geschaffen werden kann. Und auch dies, wie es eine Leuchtschrift in der anspielungsreichen «Study Collection VI» sagt: «The true artist helps the world by revealing mystic truths.» Noble Aufgabe des Künstlers.

Wieder Tod in Raum 7, wieder eine kunsthistorische Referenz: Das im Louvre befindliche Werk «Le tombeau» von Philippe Pot aus dem 15. Jahrhundert stand hier Pate für «The Tomb», ein Sarkophag, der von acht Mönchen getragen wird im Original. Jackson hat bei seiner Nachbildung die Mönche durch überlebensgrosse Astronauten (wie Holzskulpturen, aber aus verschiedenen Materialien gefertigt) ersetzt. Dies alles und vieles mehr ist in «In Search of...» zu finden. Mit anderen Worten: hingehen.

ESCH. Ernst Schurtenberger: bis 12.2.2012 Sonntag, 15. Januar um 11 Uhr: «Mit den Augen des Kurators» – Rundgang durch die Ausstellung mit Dr. Heinz Widauer Dienstag, 15. November um 18 Uhr/Dienstag, 31. Januar um 18 Uhr: «Tage im Galopp», Dokumentarfilm. In Anwesenheit der Regisseure Tobias Ineichen und Bernard Weber. Katalog: Heinz Widauer: Ernst Schurtenberge 1931–2006. Leben und Werk eines Rastlosen zwischen Tachismus und Art Brut. Hrsg. Von Christine Anliker, mit einem Beitrag von  Peter F. Altaus sowie der DVD «Tage im Galopp» (Tobias Ineichen, Bernard Weber, 1993). Scheidegger & Spiess, Zürich 2011, 304 S., CHF 69.– Matthew Day Jackson. In Search of...: bis 15.1.2012 The Making of  Matthew Day Jackson’s «In Search of...»: Mehrteiliger Video-Blog von Roger Levy zu den Aufbauarbeiten der Ausstellung. Sonntag, 23. Oktober um 11 Uhr: Gespräch mit Matthew Day Jackson in der Ausstellung, moderiert von Peter Fischer Sonntag, 20. November um 11 Uhr: Familienführung für Kinder ab 5 Jahren und begleitende Erwachsene mit Irene Lussi Fries und Joëlle Staub Katalog: Matthew Day Jackson: In Search of... Museo d’Arte Moderna di Bologna, Kunstmuseum Luzern, Gemeentemuseum voor actuele kunst Den Haag (englisch) Weitere Veranstaltungen im Kunstmuseum Luzern siehe hier.