Geskriptete Realität im UG

Das Konzept klingt vage, aber auch vielversprechend: Das Ritual «Familienfest» in all seinen Facetten, Widersprüchen und Schwierigkeiten offenlegen, dabei Einflüsse aus verschiedenen Religionen und Kulturen einweben. Was letztlich rauskommt? Ein sehr ambivalenter Theaterabend, der immer wieder überrascht, aber auch nachdenklich stimmt.

(Bilder: zvg/Ingo Hoehn)

Da ist ein grosses U, aus Tischen gefertigt. Das Tuch drauf ist weiss und soll laut Regisseurin Christina Friedrich zugleich «als Landkarte, Skizze und Protokoll der Zerrissenheit und Gefährdung der familiären Staatengemeinschaft» fungieren. Publikum und Protagonisten sitzen durcheinander rundherum. An jedem Platz steht ein Teller mit Häppchen aus verschiedenen Ländern. Kinder machen Musik. Gänge werden angesagt: sehr originell zusammengestellte Kostproben, die von Basmatireis über Pizza, Schokolade aus Guatemala auf Bananenblatt, iranische Datteln (die besten, die ich je hatte) bis zu tibetanischen Buttertee reichen. Dazwischen stehen die Protagonisten – allesamt Laien, die Friedrich in langer Recherchearbeit zusammensuchte – einzeln auf und erzählen ihre Schicksale. Nichts ist gespielt, alles authentisch. Dieser Abend ist – auch wenn es den Anschein erwecken mag – kein Hip-Hip-Hurra-Multikultigewäsch, sondern knochenhart. Da ist beispielsweise die Frau aus dem Iran, derer politisch aktiver Mann von Regierungstruppen erschossen wurde. Als sie diese Story, die sich mit unheilvollen Träumen anbahnte, erzählte, musste sie bitter weinen. Da beginnt man sich denn schon zu fragen, ob das noch künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema oder bereits schamloser Voyeurismus ist. Man hält es beinahe nicht mehr aus in diesem Schlauch von einem Raum (UG). Und doch: Es scheint auch ein Bedürfnis dieser Menschen zu sein, uns ihre Geschichten zu erzählen. Als Leitmotiv wird immer wieder Händels «Delirio Amoroso» abgespielt.

Eindrucksvoll war auch der Herr, der ursprünglich aus Guatemala kam, Maya ist, illegal in den USA war, um den Pass zu erhalten der Armee beitrat, im Irak und in Afghanistan diente, zurück in Guatemala eine Schweizerin traf, sich verliebte, heiratete und jetzt hier ist. Oder der Herr aus Eritrea, der mithilfe von Menschenschmugglern über Lybien und Italien in die Schweiz gelangte. Diesen Weg, die Kosten und die unmöglichen Reiseverhältnisse malte er mit Kreide an die Wände des UG. Oder die beiden Mädchen, die den Tränen nah von ihrer Heimat Tibet und «seiner Heiligkeit», dem Dalai Lama, erzählten. Letzteres Beispiel zeigte aber auch auf, dass Authentizität sehr oft auch den (hohen) Preis zahlen muss, dass politisch hochkomplexe Sachverhalte sehr unreflektiert, naiv und martialisch geschildert werden. Umkommentiert kommt das dann mehr als politische Werbung denn als Bericht einer persönlichen Geschichte daher. Nichts desto trotz ist dieses «Gastmahl mit Menschen von fünf Kontinenten» ein mutiges und wichtiges Projekt des Luzerner Theaters. Wer das Cover der neusten Weltwoche gesehen hat oder nächsten Sonntag die Abstimmungsresultate, weiss warum  ... – Es führt zusammen. Schafft es, das Gefühl, zu einer grossen Menschheitsfamilie zu gehören, zu evozieren.