Die unmögliche Möglichkeit des Zusammenlebens

Giswil, 12.9.2020: Das «International Performance Art Giswil – ZÄMÄ TOGETHER» gibt mal auf hintersinnig introvertierte, mal auf trashig extrovertierte Weise Antworten auf die existenzielle Frage: Wie können wir überhaupt zusammenleben? Mit der Natur, mit anderen und mit dem Tod?

An einem ausserordentlich warmen Septembertag erreiche ich mit der Ausflugsgruppe die Turbinenhalle. Das ehemalige Wasserkraftwerk liegt am Rande eines trockengelegten Moors an einem bewaldeten Hang. Die kanalisierte Aa führt fast kein Wasser. Maskiert betrete ich die entkernte Halle und bin beeindruckt von ihrer Architektur und Akustik. Wie ein leeres Kirchenschiff mit schwarz-weissen Fliesen und metallenen Lastkränen. Seit 1998 findet hier das «International Performance Art Giswil» statt.

Die künstlerische Leiterin Andrea Saemann informiert uns, dass dieses Jahr aufgrund der Quarantänebestimmungen zwei Positionen aus Grossbritannien fehlen. Und dass zu Ehren des kürzlich verstorbenen Luzerner Performancekünstlers Ruedi Schill, der mit Monika Günther das Festival gegründet hat, am Ende ein Requiem stattfinden wird.

Natur und Technik, Nähe und Distanz – wie können wir mit der Natur, den Mitmenschen, ja dem Tod zusammen leben? Das sind die Fragen, die in Giswil zur Debatte stehen. Das Festival bietet eine nicht-chronologische Auswahl von jeweils zwei gegensätzlichen Antworten.

Der Mensch verschwindet im Anthropozän

Wir sitzen drinnen im Kreis, in unserer Mitte stehen Topfpflanzen, als eine rätselhafte Gestalt eintritt. Vorsichtig und doch neugierig nähert sie sich uns. Wie eine Forschende von einem anderen Planeten mit einer tannenbaumförmigen Antenne in der Hand. Ein Messgerät für Elektrosmog, das wie ein Geigerzähler knistert und knackst. Und ausschlägt bei unseren Taschen und Rucksäcken. Als das Wesen die Pflanzenäste berührt, ertönen raumdurchdringende Klänge: Bässe, Clicks’n’Cuts. Offenbar kann das Wesen mit Pflanzen kommunizieren. Ein später hinzugezogener Mensch hingegen nicht, selbst nach mehrmaligen Versuchen nicht. Woraufhin das Wesen uns verlässt.

Andrea Marioni (Biel), «Ich wetti liäber mit de Pflanzä bliibe»
Andrea Marioni (Biel), «Ich wetti liäber mit de Pflanzä bliibe»

Das geradezu erzählerische Stück namens «HOO…» von Julie Semoroz (Genf) und Joëlle Salvage (Paris/Hamburg) entwickelt einen faszinierenden Sog, gleich einer Tier-Doku oder einem Science-Fiction-Film wie etwa «Arrival» (2016) oder «Annihilation» (2018). Ist «HOO…» nun der lautmalerische Name des Wesens, das uns wie ein Naturgeist heimsucht? Oder ein Hinweis auf jene chemische Verbindung, die von Pflanzen als chemisch kodierte Information bei der Kommunikation und Abwehr fungiert? Alles ist Information. Wir müssen sie nur richtig wahrnehmen und verstehen lernen.

Im Kontrast dazu, wie auch zu den überwiegend introvertierten anderen Performances, zeigt Andrea Marioni (Biel) in «Ich wetti liäber mit de Pflanzä bliibe» auf eine brachial-anarchische und ironisch-trashige, aber auch verzweifelt-tragische Weise, wie angestrengt, vergeblich, ja, absurd das Zusammen-sein-wollen mit der Natur wirken kann. Ein machoider Action-Hero-Dude im Astro-Silber-Anzug und Camouflage-Mantel bespritzt mit einer Wasser-Pump-Action billigste Topfpflanzen. Alles unter der Anleitung eines umgehängten Radios, das ihm musikuntermalt Instruktionen gibt.

Wie in einem Game hüpft er zum nächsten Level, wo er mit einer Blume tanzt, ihr offen seine Gefühle ausdrückt, um sie schliesslich paranoid gegen potenzielle Angriffe aus dem Publikum zu verteidigen. Soldatisch robbt er ins nächste Level, wo er sein Letztes gibt. Mit seinem Schweiss und Speichel tränkt er die Pflanze und bleibt erschöpft sitzen. Leere Blicke ins Publikum, das vom Ernst in der Albernheit und der Albernheit im Ernst ergriffen ist. Der rite de passage des Plant Force Trainee endet schliesslich mit dem Credo «I am a defender!», das er laut wiederholend in die Runde ruft. Orgeln und Holzflöten erklingen. Er steckt zwei Wasserpistolen in zwei buschige Pflanzen und verschenkt die zwei «Kinder» an zwei Frauen aus dem Publikum.

Giswil Performance Festival
Joëlle Salvage & Jolanda Hügi (Paris/Hamburg), «Sprechen 3»

Die Performance verweist nicht nur auf militärische Drills, religiöse Exerzitien und therapeutische Interventionen der Disziplinargesellschaft, sondern auch an die neoliberale Selbstoptimierung mittels Self-help-Kassetten, Trainings-Videos und Mindfulness-Apps, sowie an die sexuelle, maskulinistische Konnotation unseres Verhältnisses zur «Natur».

Parallele Leben

Absolut absorbiert stehen sich Dominik Lipp (Rupperswil) und Aleks Wojtulewicz (Birmingham) in «621.371 miles» gegenüber. Männer in schwarz und weiss. Männlich ausgebreitet am einen und am anderen Ende der Halle aufgestellt. Gegenseitig über die Köpfe ausgeleerte Steine werden nun nach einem erratischen Muster gegen die Mitte, wo der Kessel steht, geworfen.

Schwarz zerstampft, kickt, bläst hinein. Weiss wirft wie beim Curling, Cricket oder Quoits. Schwarz eher chaotisch, Weiss systematisch. Nach einer langen Weile haben sie sich zur Mitte vorgearbeitet. Die Steine entpuppen sich als Muscheln, die nun wie bei Dame auf den schwarz-weissen Fliesen verschoben werden. Die einzige Regel scheint zu sein: we make up the rules as we go along. Ohne ersichtlichen Grund beschliessen sie, dass es zu Ende ist. Eine kleine Auswahl von Muscheln liegt auf dem Kessel.

Giswil Performance Festival
Lara Buffard (London) & Lilian Frei (Zürich) mit Andrea Marioni (Biel), «International Fertilizer»

621,371 Meilen entsprechen 1000 Kilometern, was ungefähr der Distanz von Rupperswil nach Birmingham entspricht. Die Performance kann als Reflexion über die Zusammenarbeit interpretiert werden. Gerade aus der Distanz.

Und erst recht unter den Bedingungen von Corona, denn 621’371 Meilen entsprechen einer Million Kilometern, was ungefähr die Distanz zum Mond ist. Wie nähert man sich an? Gerade wenn die Herangehensweise, die Methode, so unterschiedlich ist wie Schwarz und Weiss? Aus dem Rohmaterial – Muscheln und Kessel waren ein Geschenk von Monika Günther – entstehen Entwürfe.

Joëlle Salvage und Jolanda Hügi (Paris/Hamburg) hingegen zeigen in «Sprechen 2», wie Kommunikation scheitert. Zwischen Baby, Kind, Erwachsene und Familie. Vor der Halle liest sie mit schlagendem Duktus aus Zetteln vor, die daraufhin zu Boden schwirren. Sie schiesst pointierte Sätze wie «Das, was man Mama nennt …» in die Runde und entlarvt in schonungsloser, kindlicher Einfachheit, wie wir uns gegenseitig zu Objekten machen und uns voneinander entfremden.

In «Sprechen 3» ist es nicht ein Text, der zur Sprache kommt, sondern ein Körper mit seinen Mikrogesten. Langsam und auf pantomimisch groteske Weise bewegt sich der Schattenkörper aus dem Dunkel ins Licht. Doch das Verstehen stösst an ihre Grenzen – oder beginnt erst.

Abschied nehmen

In einer Art absurdem Theater der Grausamkeit wird die Turbinenhalle von Lara Buffard (London) und Lilian Frei (Zürich) als Kreuzgang und Passionsweg begangen. In einer clownesken Darstellung schreitet die spektakuläre Entgrenzung bis zum Äussersten einer existentiellen Grenzerfahrung: «Do you feel boundless?» fragt Buffard in den Kessel, der ihr um den Hals hängt. Nach der Explosion verbaler aber auch körperlicher Aggressionen fragt uns Frei direkt: «Können Sie ihren Sterbevorgang vorstellen?» Oder verschliessen wir, wie Elisabeth Kübler-Ross in ihren «Fünf Phasen des Sterbens» aufzeigte, mit Verleugnung und Zorn die Augen vor den Tatsachen «We all gonna die» und «We’re alone together»?

Giswil International Performance Festival
Gisela Hochuli (Ruppoldsried) mit Ruedi Schills «Requiem» (1985)

Im direkten Gegensatz dazu entscheidet sich die Künstlerin Gisela Hochuli, am Ende des Tages keine Performance zu Ehren von Ruedi Schill aufzuführen. Stattdessen erzählt sie uns ihre persönlichen Erinnerungen und legt Memorabilien aus. Doch gerade Absenz lässt Präsenz zu. Als Abschluss wird Ruedi Schills über 20-minütiges «Requiem» aus dem Jahr 1985 abgespielt. Spukhafte Stimmen aus der Vergangenheit suchen die leere Halle heim und erfüllen die Gegenwart mit ihren jeweils persönlichen Botschaften. Vielleicht können wir gerade, wenn wir zusammen alleine sind, als Einzelne Zusammen-mit-Anderen-sein und zu einer Gemeinschaft von Ko-Subjekten werden. Die von uns Gegangene, Verabschiedete und Erinnerte miteinschliesst. Ja, selbst noch das Ganz andere, den Tod.

Erschöpft, emotional berührt und mit Tausenden Eindrücken im Kopf mache ich mich auf den Heimweg und gehe im Dunkeln zu Fuss über das trockengelegte Moor zum Bahnhof Giswil.