Also sprach er ... die gefiederten Worte

Gestern hat der Odyssee-Marathon begonnen. Im Kleintheater Luzern. An acht Tagen lässt uns Schauspieler Walter Sigi Arnold (links im Bild) mit seiner angenehm wohlklingenden Stimme in die mal sanft wogenden, mal archaisch rauschenden 12 110 Hexameter Verse (24 Gesänge, ursprünglich auf Buchrollen) von Homers «Odyssee» eintauchen und mitschaukeln. Nicht auf Griechisch, sondern in der fabelhaften deutschen Übersetzung des Luzerner Altphilologen Kurt Steinmann (mittig im Bild), der seiner Berufsgattung gestern alle Ehre machte. Es empfiehlt sich, während des Zuhörens die Augen offen zu halten, weil man sonst: a) von der wallenden Sprachrhythmik und ob all den kunstvollen Retardierungen in einen süssen Schlaf gelullt wird und b) die dynamischen, auf den Strich gebrachten Odyssee-Visualisierungen des Luzerner Illustrators Melk Thalmanns (rechts im Bild) verpasst. Von der Kopfgeburt, der funkeläugigen Athene, die Zeus’ Haupt entsprang

Plotmässig passiert in den ersten beiden Gesängen, denen ich gestern gelauscht habe, eigentlich nicht viel: Die Götter beschliessen, Odysseus nach seiner nunmehr 20 Jahre andauernden abenteuerreichen Irrfahrt wieder Richtung heimatliche Gefilde zu geleiten, während sich sein Sohn Telemachos im Gegenzug, angespornt durch die Göttin Athene, die ihm in Männergestalt erscheint, entschliesst in hohe See zu stechen, um seinen verschollen geglaubten Vater zu suchen. Derweil buhlen junge brünstige Freier um die Gunst von Odysseus treuer Gattin Penelope, verlustieren sich in ihrem Palast, trinken, tanzen, feiern Orgien. 

Vielmehr bewegt sich die Sprache eindringlich in den schillerndsten Nuancen, auf und ab auf und ab, wellenähnlich, einzelne Wörter klingen besonders hervor. Wild brausende Winde. Gefiederte Worte. erzgepanzerte Griechen. Die funkeläugige Athene. 

Es stellt sich eine meditative Stimmung ein, die unaufgeregte Stimme Walter Sigi Arnolds und die Verse fliessen unablässig von Versfuss zu Versfuss. Die beruhigende Wirkung liegt wohl am strengen Versmass. Hexameter sind es (= aus sechs metrischen Einheiten bestehender Vers). Sowohl in Homers altgriechischer Fassung, wie auch in Karl Steinmanns deutscher Übersetzung. Gerade ein Riesenepos zu übersetzen, das mitunter den Anfang und einer der Höhepunkte der abendländischen Literatur markiert und an dem sich seit der ersten deutschen Übersetzung 1537 durch einen gewissen Herrn Simon Schaidenreisser schon manch ein Übersetzer die Zähne ausgebissen hat, ist eigentlich eine Odyssee in sich.

Übersetzungen sind immer Übergänge. Etwas von einer Sprache in die andere zu tragen, quasi von einem Ort zu einem anderen, bringt Veränderungen mit sich. Die Worte in der Übersetzung gleichwohl zum Klingen zu bringen, oder vielmehr die in diesen Worten verborgene Welt, gelingt dem Übersetzer/der Übersetzerin wohl nur, wenn sie/er das passende Zauberwort findet, wie es beim romantischen Dichter Joseph von Eichendorff so schön heisst (Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.). Steinmann hat das Zauberwort gefunden. Er hat die Hexameter-Form streng eingehalten, in den Wortübersetzungen hat er sich verschiedene Übertragungsmöglichkeiten frei gehalten – wie Faust, der sich in seinem Studierzimmer an die Übersetzung des Wortes Logos macht und von «Wort» zu «Sinn» über «Kraft» schliesslich zu «Tat» gelangt.

Der Faustvergleich stammt nicht von mir, Steinmann hat in seiner langen Einführung vor der eigentlichen Lesung mit unzähligen Beispielen aus der Literatur, einer Tour d’horizon durch die Übersetzungsgeschichte inklusive sanfter Seitenhiebe bereits bestehender Übertragungen des Riesenepos, mit Zitaten berühmter Dichter und Denker und etymologischen Herleitungen der Namen Odysseus, Penelope, Telemachos seine unbändige Belesenheit unter Beweis gestellt. Während 4 Jahren hat Altphilologe und Frühpensionär Steinmann, der tatsächlich wie ein Altphilologe aussieht (bleich, eine leicht pädagogische Attitüde, die vermutlich von seiner Tätigkeit als Latein- und Griechischlehrer am Gymi herrührt und ein paar Schuppen auf dem schwarzen Jacket) mit eisernem Willen pro Tag 15 Verse übersetzt.

Wer hören und sehen will, wie Odysseus von der verführerischen Nymphe Calypso sieben Jahre lang auf einer Inselgrotte festgehalten wird, wie er einen Zyklopen austrickst, indem er diesem angibt «niemand» zu heissen, wie die Zauberin Kirke seine Kameraden in Schweine verwandelt, wie er sich an einen Schiffspfahl binden lässt, damit er den widerstehenden Sirenenrufen widerstehen – um lediglich einige der archaischsten und magischsten Szenen zu nennen – dem sei der Besuch der Marathonlesung wärmstens ans Herz gelegt. Für wahre Sprachfreaks gibt's den Marathonpass.

Und noch was: Homer ist zwar 700 vor Christus entstanden, doch ist das Werk ausgesprochen modern (beginnt fulminant mit Rückblende), ja sogar postmodern (Erzählung ist in verschiedene, getrennte Stränge aufgefächert) die Themen menschlich, allzu menschlich: Betrug, Eifersucht, Verführung, Totschlag, Sehnsucht, Treue, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Macht, Gier – die ganze Palette eben. Einziger Unterschied: Hier walten noch die Götter und stellen am Ende die gestörte Sozialordnung wieder her. 

Die Odyssee-Marathonlesung: Jeden Abend bis SA 25. April, jeweils 20 Uhr, Kleintheater Luzern

**** Odysseus – Entwurfsskizzen von Melk Thalmann, zu sehen beim Gang zur Garderobe ****