Aasfresserei

Gestern startete das Luzerner Theater im Zelt im Stadthauspark mit «La Périchole» von Jacques Offenbach, inszeniert von Andreas Hermann, in die neue Saison. Kulturteil war dabei. Von Peter Bitterli, noch immer um Offenbach trauernd

(Bild: Ingo Höhn/zvg)

Offenbach ereignet sich dann, wenn infantilster Klamauk, schadenfreudiger Spott und hochaktueller Klatsch über die Peinlichkeiten der oberen Zehntausend durch diese federleichte, stupend virtuose, wie aus dem Handgelenk geschüttelte, moussierende, jubilierende, immer wieder durchknallende und hoch anspielungsreiche Musik zum vielfältigen, intelligenten und zugleich brüllend komischen, vor allem aber beziehungsreichen Amusement, zum Gesamtkunstwerk aus Satire und Sottise geadelt werden. Damit sind im Grunde auch schon die vielen Falltüren genannt, die dem zur Realisierung eines der ja nicht mehr taufrischen Offenbachschen Meisterwerke Schreitenden zum Verhängnis werden und also das Ereignis verhindern können. Zunächst ist Klatsch ja sehr ephemer; heute abend ist schon langweilig und durch neues Gerede ersetzt, was heute früh noch erregt weitergewispert wurde. Schliesslich sterben auch die Leute, über die da geklatscht wurde, es sterben die Tabus, um derentwillen sich das Klatschen lohnte. Anderthalb Jahrhunderte sind da eine sehr lange Zeit. Die Hoppeleien des dritten Napoleon und seiner Schranzen, zumal wenn diese noch in südamerikanischer Kostümierung daherkommen, interessieren uns Zeitgenossen Kachelmanns, Straussens und der unsäglichen Schwarzer noch nur sehr akademisch. Lieber würden wir die Schwarzers und Kachelmanns samt ihren Anwälten auf der Bühne sehen, gerne auch singend und in peruanischer Kostümierung. Aha! Springt's über, was Offenbach war und sein könnte? Aber weiter in Sachen Falltüren. Der Spott macht nur dann Sinn, wenn er auf diejenigen zielt, die zu verspotten befreiende Triebabfuhrt zur Folge hat. Die schönste aller Freuden entfaltet ihr volles Genusspotenzial nur, wenn endlich mal der der Geschädigte ist, der sich dem Schaden meist zu entziehen weiss. So bleibt es denn sinnleer, wenn die Spottkraft an ungefährliche Popanze aus einer fernen Andenmetropole verschwendet wird. Was zum Geier - oder sagen wir passender «zum Kondor», der ja auch ein Aasfresser ist - geht uns schliesslich ein fiktiver peruanischer Vizekönig an? Hier tritt die Crux noch einmal zutage: Die Offenbachiade spielt vor der Folie ihrer Zeit und der Musik ihrer Zeit. Anspielungen in Text und Musik, Klatsch und Schadenfreude sind nur verständlich solange ihr Bezugspunkt bekannt und brisant bleibt. Sie haben eine rasend kurze Halbwertszeit. Rasch fallen sie ins Fade. Zum Dritten kann eine Offenbach-Inszenierung auch musikalisch abstürzen. Die Partituren des «Mozart der Champs-Elysées» sind die Zauberlandschaft, in der Klamauk und Satire erst aufleben, sind die Atmoshäre, die sie einhüllt. Der bezaubernde Witz liegt darin, dass der Komponist Offenbach schlicht alles kann, was seine Zeitgenossen Verdi, Meyerbeer oder Wagner konnten, alles zugleich zu parodieren weiss, und dabei noch seinen ganz eigenen melodischen Schmelz dazulegt. Die makellose, makellos schöne und doch immer wieder zur leicht grellen Ueberbelichtung tendierende Musik trägt, verbindet und adelt erst den Witz und den Spott. Wenn Kachelmann und Schwarzer, Clinton und die Praktikantin ein zauberhaftes Quartett intonieren, aus dem wir womöglich noch den letzten Furz aus «Musicstar» herauszuhören glauben, dann macht das einfach grosse Freude. Wird die Musik indessen nicht perfekt dargeboten, bleibt der Klamauk infantil. Dann ist Dorftheater oder Luzerner «Tatort» angesagt. Es helfen also nur textliche Aktualisierung und musikalische Sorgfalt. Es gilt, die Anspielung neu zu knüpfen, den Klatsch brisant zu halten und die Ziele des Spotts neu zu justieren. Hätten zum Beispiel in Luzern zwei Regierungsräte gleichzeitig zur gleichen Sekretärin ein Verhältnis gehabt, wäre gar ein Kind der Liebe diesem gouvernamentalen Dreieck entwachsen, hätte zudem die Frau des einen geheimen Rates sich aufopfernd um die süsse Frucht gekümmert in der fälschlichen Meinung, der andere Rat sei der leibliche Vater, dann hätte man gratis auf dem Silbertablett den aktuellen Bezug, Klatsch und Spott in genau der Brisanz geliefert bekommen, mit der einst auch Offenbach angetreten ist. Der Rittersche Palast könnte dann auch in Lima oder im Takatukaland stehen. Da im biederen Luzern solches aber nicht anfällt, da auch keine nationalen Wahlen anstehen, anlässlich derer sich Amtsträger beflissen aufblasen, da in Luzern keine Demonstranten eingesackt und nächtelang in unterirdischen Kerkern festgehalten werden, da wir hier das Phänomen «Strassenmusikanten» nicht kennen, da schliesslich hierzulande keine Fastnacht stattfindet, anlässlich derer sich Honoratioren unter das Volk mischen, hat Andreas Herrmann der Regisseur und Schauspielleiter des Luzerner Theaters angenommen, das Stück spiele wirklich in Lima und hat es in den peruanischen Andensand gesetzt. Man sieht das sofort, denn diejenigen im Festzelt, die keinen Eintritt bezahlt haben, tragen gerne Ponchos und diese lustigen runden schwarzen Hüte, bei denen wir immer gleich an Peru denken. Auch gibt es in der Folge viele phantastische Operettenuniformen zu sehen, wie wir sie ja auch von Südamerika kennen. Das ist in einer Operette natürlich besonders passend, da der Begriff ja von diesen Uniformen herstammt. Und damit wir wir auch sofort wissen, was das denn nun für ein Tonsetzer ist, dessen Name auf dem Programmzettel steht, wird gleich zu Beginn der sogenannte «Cancan» aus Offenbachs «Orphée aux Enfers» ab Band eingespielt. Das Stück ist bekannt aus Funk, Fernsehen und Moulin Rouge, und zur Erhöhung des Wiedererkennungswertes lüpfen ein paar fülligere Damen dazu die Röcke und wedeln mit den Beinen. Ça c'est Paris - wo man doch grade dachte, das sei jetzt Lima. Das wird denn auch nicht irgendwie ab- oder sonstwie gebrochen, sondern führt nach dem dergestalt schamlos und eitel eingefahrenen Anfangsapplaus in die Trostlosigkeit einer sowohl textlich wie musikalisch sämtliche Falltüren ins Bodenlose querenden Abwärtsspirale, einer Doppelhelix des Scheiterns gewissermassen. Die Aufforderung zum Mitsingen, Mitschunkeln und Aufsetzen der lustigen Hütchen: Erfolgte sie vor dem Sturzflug oder bereits vor dem Cancan? Egal. In der Folge wird Offenbachs raffinierte Partitur, also das tragende Medium des Stücks bis auf klägliche Restbestände nahezu vollständig abgeschafft. Die jammervoll versprengten Trümmer, die da und dort durch Schauspielerinnen und Schauspieler gekrächzt, gesprochen, gerapt oder bestenfalls in militärischer Brecht-Eisler-Diktion vorgebrüllt werden, lassen den Charme und die dramatische Stingenz des Originals noch nicht einmal mehr erahnen. Es tut weh. Es tut sehr weh. Nicht dass ein stark reduziertes Orchesterchen mit einer raffinierten, witzigen Instrumentierung grundsätzlich nicht etwas Vergnügliches, etwas Bezauberndes gar zu leisten vermöchte. Hier aber, in dieser Verkürzung, in dieser Zerhacktheit, in dieser Plumpheit, mit diesem völlig fehlenden dramatischen Bogen, wo eine Steigerung keine Steigerung und ein Finale keine Aufgipfelung hin zu Virtuosität und musikalischer Brillanz im Ensemblespiel mehr sein kann, mit diesen hundslausigen Sängern, bleiben nur Staub und - ja! - Depression übrig. Szenisch und schauspielerisch gibt es Charge und Grimasse statt Empathie und Satire. Eingeschobene Conférencen wollen sich wohl deshalb beim Publikum anbiedern, weil das Produktionsteam seinem Stück nicht traut. Gerne fällt mal einer genau dort um, wo man denkt, dass er jetzt dann umfällt. Und wer besoffen ist, dem sieht man das auch gleich an. Was für ein himmelweiter Unterschied ist doch zwischen dem «Je suis un peu grise unpeugriseunpeugrise» einer Dame, die - man hört es schon dem Text an - ein bisschen lallt, aber die Contenance mit allen Kräften gerade noch zu wahren weiss und dem «Ich bin so besoffenbesoffenbesoffen» einer Schauspielerin, die ihre Aussage mit Armgewedel und einem lautstarken Hickser aufmöbelt. Gerade hier, auch in der Verkürzung dieses «Grisetten»-Liedchens auf eine einzige Strophe, wodurch das etwas schwierige Einfädeln ins ursprüngliche Tempo nach dem leicht schnelleren Rondell (ja, das wäre Offenbach!) entfällt, wird die Fallhöhe deutlich und der Schmerz gross. Ueberhaupt die Sprache: Es läuft halt schon nur auf Französisch so richtig butterweich schmelzend und auch scharf witzig. Aber ob es wenn schon denn schon nun wohl gerade eine so grobe deutsche Uebersetzung hat sein müssen? Da hätte man die Chose wohl besser nach Namibia statt nach Peru versetzt, oder? Na, die Herrn? Sie stehen vor Offenbach! Er verlangt etwas von Ihnen! Ihr Kopf wäre gefragt gewesen, Ihr Herz, Ihr Spott und Ihre Phantasie. Sie haben versagt. Wieso wird uns Zuschauern eingebläut, dass wir den Vizekönig von Peru, der inkognito unterwegs ist, nicht erkennen sollen, wenn ohnehin niemand den Vizekönig von Peru erkennen kann, weil der Vizekönig von Peru in keiner Art und Weise eine Ähnlichkeit hat mit irgendjemandem, den wir aus Funk, Fernsehen, Stadthaus oder Fastnachtszeitung kennen? Immer wieder wurden die Zuschauer während der Vorstellung aufgefordert, ruhig Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstünden. Vom Angebot wurde kein Gebrauch gemacht. Es war ja auch alles klar. Man war im Musikantenstadel, was ja - das weiss nun wirklich jeder - wirklich lustig ist. Was sich mit Bestimmtheit sagen lässt ist, dass die Regie sämtliche Erwartungen geschickt unterlaufen hat. In den gebildeten Kreisen Namibias nennt man solches Tun «Dekonstruktion». Dekonstruktion ist echt megageil und keinesfalls etwa mit «Abbau» oder «Zerstörung« zu übersetzen. Zeitgleich mit der Luzerner Premiere übertrug übrigens der Kanal 3sat eine Aufzeichnung der «Périchole»-Produktion aus der Komischen Oper Berlin von 2010. Diese Inszenierung ist die Vorlage, von der Andreas Herrmann das Meiste abgekupfert hat, von der holprigen Uebersetzung über die grellen, sinnfreien Kostüme und die Conférenciers bis hin zum einzelnen Rülpser oder Galgenstrick. In Berlin allerdings bleibt und stimmt und trägt die Musik. Sie ist ja das Netz, auf welchem die Falltüren traumsicher und schlafwandlerisch zumindest bis in die Nähe des Gelingens überschritten werden können. Nagend am auch nicht eben reichlichen, schon abgelutschten Berliner Knochen hat Andreas Herrmann sich sein Stück Aas auch noch gesichert. Hätte das Luzerner Theater einen regierenden und verantwortlichen Vizekönig, so hätte dieser das zu verhindern gewusst.

Weitere Aufführungen bis SA 15. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Weitere Informationen und Tickets gibt's hier.