
03.11.25
Film
Das Erbe des Schweigens
Der Dokumentarfilm «Nebelkinder» folgt ehemaligen Heim- und Verdingkindern und ihren Nachkommen auf einer Spurensuche durch Archive, Erinnerungen und Familiengeschichten. Ein eindrückliches Zeitzeugnis über eindrückliche Zeitzeug:innen.
Daniel Riniker (Text)
In der Schweiz waren bis in die 1970er-Jahre armutsbetroffene oder gesellschaftlich marginalisierte Familien von sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen. Diesem Unrecht widmet sich die Regisseurin Corinne Kuenzli in ihrem Dokumentarfilm. Die titelgebenden «Nebelkinder» sind Heim- und Verdingkinder, von denen es mutmasslich Hunderttausende gab – und bis heute gibt. Es geht also um Kinder, die auf dem Heustock schlafen mussten, um idyllisch gelegene Erziehungsheime, in denen Hunger und Gewalt herrschten, und um Mütter, denen aufgrund ihres angeblich unsittlichen Lebenswandels die Kinder weggenommen wurden. Immer wieder rücken Bauernhöfe in den Blick. Der Film zeichnet das Bild einer ländlichen, von Armut geprägten Schweiz: harte Arbeit bis zur Erschöpfung, Lieblosigkeit, Ausbeutung und nicht selten Misshandlung.
Spurensuche in mehreren Familien
In ihrem Film verwebt Corinne Kuenzli die Geschichten verschiedener Betroffener und ihrer Nachkommen miteinander und begleitet sie durch deren Aufarbeitungsprozess. Am Anfang steht jeweils der Entschluss, das Schweigen zu brechen, und der Wunsch, die eigene Familiengeschichte besser zu verstehen. Archive werden durchforstet, Akten eingesehen, Fotoalben geöffnet. Dann folgt die Konfrontation mit harten Fakten und verdrängten Erinnerungen – Berichte von Behörden, die die Betroffenen zu Fällen und Objekten machten, und Erzählungen, die lange Zeit verschwiegen wurden. Zum Schluss rückt die Reflexion ins Zentrum: Was hat das Erlebte mit den Betroffenen gemacht? Welche Traumata sind geblieben? Und wie wirken sie bis in die nächste Generation hinein?
Corinne Kuenzli bebildert die Erzählungen ihrer Protagonist:innen mit Ausschnitten aus bekannten Schweizer Spielfilmen, die von tragischen Schicksalen von Kindern handeln, wie «Das Menschlein Matthias» (1941), «Der Verdingbub» (2011) oder natürlich «Heidi» (1952). Damit hebt sie die Vergangenheit visuell klar von der Gegenwart ab, in der die Kamera sehr direkt eingesetzt wird. Während man den Familien im Film dabei zusieht, wie sie ihre eigene Geschichte umpflügen und Unterdrücktes ans Licht holen, wird auch das Zuschauen selbst immer aufwühlender. Hier erscheinen die Konflikte und Verletzungen in einer solchen Verstrickung, dass Verstehen, geschweige denn Verzeihen, kaum möglich scheint. So erinnert sich etwa der ehemalige Verdingbub Hans Jungo an seine Mutter, die zwar später eine liebevolle Grossmutter war, deren Verhältnis zu ihm als Sohn aber zeitlebens zerbrochen blieb. Oder Sabine Mackintosh, die ihrer Mutter vorwirft, als Mutter versagt zu haben – und zugleich darum kämpft, den entwürdigenden Akten der Vormundschaftsbehörden doch noch zu widersprechen.
was «aufarbeitung» heisst
«Nebelkinder» macht deutlich, dass das Schweigen ebenso Teil der Gewalt war wie die körperliche Arbeit und die Strafen in den Heimen. Es wird gezeigt, wie transgenerationale Traumata entstehen; nicht nur durch erlittene Gewalt, sondern auch durch Scham, Sprachlosigkeit und das Fehlen von Fürsorge. Und es wird die Frage gestellt, was das für die nächste oder übernächste Generation bedeutet, was der vielbeschworene Begriff der «Aufarbeitung» konkret heisst.
«Nebelkinder» ist ein eindrückliches Zeitzeugnis über eindrückliche Zeitzeug:innen. Der Film zeigt Versuche, abzuschliessen, zu verstehen, vielleicht auch zu verzeihen – und zugleich die Unmöglichkeit, die Vergangenheit wirklich zu überwinden. Klar wird dabei aber auch: Nebelkinder, das sind vermutlich nicht nur die einst verdingten Kinder, sondern auch die Generationen danach.







