
02.06.25
Film
Im Inneren des Berges
Ein Leben fernab des Konventionellen. Davon erzählt der Dokumentarfilm «Une femme qui part» über die Bergsteigerin Marie-Louise Plovier-Chapelle, der auch am Bergwelten Filmfestival in Stans gezeigt wird.
Florian Wüstholz (Text)
«Was wollte ich hier eigentlich finden?», fragt sich die belgische Filmemacherin Ellen Vermeulen in ihrem neuen Dokumentarfilm «Une femme qui part». Die Kamera ist auf den Boden gerichtet. Der Blick folgt ihren tiefen Fussabdrücken im Schnee. Hier, auf 5000 Metern über Meer, wo kein Leben existieren kann, wo es windet und schneit, wo wir frieren und verzweifeln, gibt es nichts ausser diesem Blick auf die Fersen vor uns. Sie geben den Weg vor, sie bieten Halt – physisch und metaphysisch.
«Uns fehlt es immer an irgendwas», antwortet später die Bergsteigerin Marie-Louise Plovier-Chapelle aus der Vergangenheit. Denn während der kräftezehrenden Szene befindet sich Vermeulen eigentlich in den Fussstapfen der Bergpionierin Plovier-Chapelle. Sie versucht zu verstehen, was diese Frau mehr als siebzig Jahre zuvor am abgelegenen Berg in Indien antrieb, indem sie ihre Reise von damals wiederholt. 1952 ist Plovier-Chapelle Teil einer Expedition zum unbestiegenen 7132 Meter hohen Chaukhamba I. Es wäre die erste weibliche Erstbesteigung im Himalaya.
zum Hügel reduziert
Marie-Louise Plovier-Chapelle träumte stets von einem Leben fernab des Konventionellen und Vorgespurten. Sie wollte frei sein und ihren eigenen Weg gehen – ein Traum, der kaum mit ihren bürgerlichen Familienpflichten als Mutter von vier Kindern vereinbar war. So teilte sie sich quasi selber in zwei Persönlichkeiten auf und verbrachte die Hälfte des Jahres in den Bergen, um ihren tiefsten Wünschen nachzugehen. Je näher sie jedoch 1952 dem Gipfel des Chaukhamba I kommt, desto feindseliger werden ihre männlichen Schweizer Begleiter – bis sie Plovier-Chapelle und ihren Seilpartner Édouard Frendo gar zum Umkehren zwingen. Die anderen Männer wollen die Erstbesteigung für sich selbst beanspruchen. «Sie waren unerbittlich mit mir», schreibt Plovier-Chapelle in ihr Tagebuch. «Eine Frau auf dem Gipfel würde den Berg zu einem Hügel reduzieren», fasst sie die Vorurteile zusammen.
So findet Plovier-Chapelle nicht einmal fernab der Zivilisation einen Ausweg aus Sexismus und bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen. Die Vorstellung, dass Frauen nicht an den Berg gehören, war in der Schweiz verbreitet. Erst ab 1980 durften Frauen Mitglied beim Schweizer Alpen Club werden. Noch heute werden Frauenseilschaften am Berg gefragt, wo denn ihr Bergführer sei, oder sie erhalten ungefragt Belehrungen, wie sie ihre Eisschrauben zu verwenden hätten. So ist Ellen Vermeulens Film auch eine Meditation über das Leben als Frau in einer Männerdomäne – mitten in der geteilten Sehnsucht nach den Bergen.
Bergwelten im Film
Damit passt «Une femme qui part» bestens ins Programm des Bergwelten Filmfestival in Stans. Während fünf Tagen widmen sich Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme der Reflexion über die Bergwelt, die Umwelt und die Menschen, die sich darin bewegen.
Nach ihrer Verbannung vom Chaukhamba I gelingt Plovier-Chapelle doch noch eine Erstbesteigung: die des 6075 Meter hohen Deo Dakhni. Als sie wieder im Basislager ist, sorgt der einsetzende Monsun dafür, dass ein unabhängiger Versuch am Chaukhamba I ein Traum bleibt. Manchmal sei es eben besser, die Götter aus der Distanz zu sehen, reflektiert sie im Film. Eine Einsicht, die Vermeulen siebzig Jahre später beim Abstieg vom Deo Dakhni vielleicht auf ihre eigene Art hat. Als sie in eine Gletscherspalte fällt und «ins Innere des Berges» blickt, spricht sie aus dem Off: «Vielleicht kommt das, was ich hier sehe, dem am nächsten, wonach ich gesucht habe.»