01.07.24
Bis zu 16 Stunden am Tag
Zu Hause, in der Fabrik oder als Fremdplatzierte in Heimen. Dass die Arbeit von Kindern bis 1981 teilweise legal war, thematisiert eine Ausstellung im Forum Schweizer Geschichte Schwyz. Ein Gespräch mit der Kuratorin Rebecca Sanders.
Jonas Frey (Interview)
Rebecca Sanders, laut Zahlen der Unicef sind heute circa 160 Millionen Jungen und Mädchen von Kinderarbeit betroffen. Wie stark spielte dieser Fakt eine Rolle für die Ausstellung «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert»?
Die Ausstellung entstand vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der «Spazzacamini», der sogenannten Kaminfegerkinder. Sie wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts fremdplatziert und gingen für ihre armen Familien aus dem Tessin auf Wanderarbeit nach Norditalien. Dadurch stiessen wir auf die Kinderarbeit als grösseres Phänomen zu dieser Zeit. In einigen Fotografien und Texten, die in der Ausstellung zu sehen sind, thematisieren wir auch die Kinderarbeit von heute wie jene auf Kakaoplantagen oder in Granitminen. Auch in der Schweiz war Kinderarbeit immer eine Frage der Not und Armut. Deshalb liess man Kinder diese – zum Teil gefährlichen und ausbeuterischen – Arbeiten ausführen.
Weshalb findet die Ausstellung gerade im Forum Schweizer Geschichte Schwyz statt?
Nicht, weil es in Schwyz mehr Kinderarbeit gab als anderswo, sondern durch die Nähe zum Tessin und die Geschichte der «Spazzacamini». In der Ausstellung zeigen wir auch lokale Beispiele, etwa die Arbeit von Kindern im Torfabbau und das «Ischä», den Abbau von Eis vor der Erfindung des Kühlschranks, in Rothenthurm. In lokalen Betrieben in der Region Schwyz fanden wir Belegschaftsfotos mit Kindern. Manche Fotos zeigen Kinder bei der Arbeit an Maschinen, etwa in der Seidenindustrie in Gersau.
Wie beschrieben die Kinder selbst ihre Arbeit?
Arnold Stauber aus Windisch veröffentlichte in den 1920er-Jahren eine der wenigen Autobiografien mit dem Titel «Erinnerungen eines ehemaligen Textilarbeiters». Er erzählt, wie er als 14-Jähriger die «Fabriksklaverei» aus eigener Erfahrung kennenlernen musste und sich gleichzeitig freute, dass er für seine «lieben Eltern» etwas verdienen und sie so unterstützen konnte.
«In der Fabrik liess man Kinder wegen ihrer Körpergrösse unter Maschinen kriechen, um Seidenabfälle einzusammeln – während die Maschinen liefen.»
Wie sah der Alltag von Kindern im 19. Jahrhundert aus, die arbeiten mussten?
In Schulaufsätzen um 1877 erzählen Zwölfjährige von ihrer Arbeit in der Heimindustrie. Sie stehen am Morgen um sechs Uhr auf, gehen in den Keller und fädeln die Nadeln für die Stickmaschinen ein. Dann gehen sie in die Schule, kommen über den Mittag nach Hause und essen, dann wieder fädeln, zurück in die Schule, wieder nach Hause und fädeln bis zum Abendessen. Danach Hausaufgaben erledigen und dann wieder fädeln, bis sie ins Bett gehen. Für viele Kinder von Heimarbeitern war ein solcher Tagesablauf normal.
Welche Formen von Kinderarbeit gab es?
Auf der einen Seite die Familienarbeit, in der Kinder von Erwachsenen lernten oder entsprechend ihren Fähigkeiten eingesetzt wurden. Dazu gehörte zum Beispiel die Arbeit in der Landwirtschaft oder im Kleingewerbe. Sie wurden aber auch von den Eltern zur Arbeit mitgenommen, weil keine andere Möglichkeit für die Kinderbetreuung bestand. Die dortige Mithilfe musste nicht immer nur schlecht sein. Kinder konnten ihre Persönlichkeit entwickeln oder als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite nahm aber vor allem seit der Industrialisierung die ausbeuterische, teilweise lebensgefährliche Arbeit in den Fabriken zu. Wir fanden Zeitungsinserate, in denen Fabrikherren ganze Familien mit Kindern suchten. Damit alle in der Fabrik arbeiten.
Wo arbeiteten Kinder in der Zentralschweiz?
Zum Beispiel in der Seidenindustrie in Gersau, in der Weberei in Heimarbeit, für den Spinnerei-Industriellen Henggeler im Ägerital oder beim Kolorieren von Heiligenbildern für den Benziger Verlag in Einsiedeln. Vor allem in der Textilindustrie arbeiteten Kinder teilweise den ganzen Tag oder auch nachts. Kinder haben eine sehr gute Feinmotorik und sehen gut – also wurden sie für das Einfädeln von Nadeln oder das Flechten eingesetzt. In der Fabrik liess man Kinder wegen ihrer Körpergrösse unter Maschinen kriechen, um Seidenabfälle einzusammeln – während die Maschinen liefen.
Welche gesundheitlichen Folgen hatten diese Arbeiten für die Kinder?
Sie verletzten sich bei Unfällen mit den Maschinen oder waren psychisch und körperlich unterentwickelt. Die Kinder waren bis zu 16 Stunden am Tag in der Fabrik, in der es laut und die Luft schlecht war, teilweise ohne Tageslicht. Die Webkeller in der Heimindustrie, in denen sie Stickmaschinen einfädelten, waren oft feucht, so lief der Faden besser.
Von welchen Stimmen kam Ende des 19. Jahrhunderts Einspruch gegen diese Zustände?
Vor allem von Lehrpersonen, Pfarrern und Leuten aus dem sozialreformerischen Lager, die sich für die Annahme des eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877 starkmachten. Mit diesem Gesetz wurde Kinderarbeit unter 14 Jahren verboten. Die Stimmen von Kindern sind in den Quellen selten.
Galt Kinderarbeit Mitte des 19. Jahrhunderts als normal in der Bevölkerung?
Ja, denn die Leute waren darauf angewiesen. Die Fabrikantinnen und Fabrikanten schickten ihre Kinder nicht in die Fabrik, um zu arbeiten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter schon. Es ging weniger um die Mentalität der Gesellschaft, sondern vielmehr um wirtschaftliche Notwendigkeit.
Ein weiteres Thema der Ausstellung sind die fremdplatzierten Kinder, die teilweise bis ins späte 20. Jahrhundert Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurden. Haben Sie Kontakt aufgenommen mit den Betroffenen?
Wir haben von einigen Betroffenen, die in ein Heim gesteckt wurden, Objekte für die Ausstellung erhalten. So sind etwa ein Gemälde und ein Gedicht zu sehen, mit denen sie ihre Erlebnisse verarbeiteten. Oder von einer anderen Fremdplatzierten die Schuhe, die sie seit Beginn der Heimzeit bis zum Drogenentzug trug. Die Kinder in diesen Heimen mussten teilweise arbeiten, damit die Heime weiter bestehen konnten – für ihre eigene Gefangenschaft sozusagen. Diese Mentalität kommt aus der Industrialisierungszeit.
«Die Kinder in diesen Heimen mussten teilweise arbeiten, damit die Heime weiter bestehen konnten – für ihre eigene Gefangenschaft sozusagen.»
Inwiefern?
Damals wurde das Fürsorgewesen so ausgelegt, dass alle armen Leute arm sind, weil sie nicht richtig arbeiten. Also steckte man sie in Heime und versuchte, sie durch Arbeit zu erziehen. Man machte das bei Erwachsenen, aber auch bei Kindern – bis 1981 konnten Kinder ohne richterlichen Beschluss fremdplatziert werden, oft mussten sie im Heim arbeiten. Viele haben das heute nicht auf dem Radar. Wir stehen bei der Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erst am Anfang.
Welche Reaktionen erhalten Sie von Besucher:innen, die nicht davon betroffen sind?
Für viele sind diese Erlebnisse der Fremdplatzierten schockierend, vor allem der Umstand, dass das bis 1981 gesetzlich möglich war. Damit beispielsweise Schulklassen in ein Gespräch mit Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen treten können, haben wir Workshops gemeinsam mit vier Betroffenen erarbeitet. Das ist wichtig, denn die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen müssen aufgearbeitet werden. Das soziale System hat versagt und viele Leute im Stich gelassen. Darüber müssen wir sprechen.
Rebecca Sanders ist Historikerin und Kuratorin am Schweizerischen Nationalmuseum, zu dem das Forum Schweizer Geschichte Schwyz gehört. Die Ausstellung «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert» hat sie gemeinsam mit Pia Schubiger kuratiert.
Die Ausstellung «Arbeitende Kinder im 19. und 20. Jahrhundert» von Rebecca Sanders und Pia Schubiger ist bis Sonntag, 29. Oktober 2024 im Forum Schweizer Geschichte Schwyz zu sehen.»