01.06.24
Theater
Am liebsten barfuss
Ein Gespräch mit Living Smile Vidya – über Humor, das ungesicherte Exil in der Schweiz und die Schauspielerei als Werkzeug des Protests.
Franziska Nyffenegger (Interview) und Claudia Schildknecht (Bilder)
Ihr Zuhause sei der beste Ort für unser Treffen, hatte Living Smile Vidya auf meine Anfrage geantwortet und mir eine Adresse in einem kleinen Dorf im Luzerner Seetal angegeben. Die Wohnung befindet sich im Parterre eines Mehrfamilienhauses an einer Ausfallstrasse, ein Zimmer mit Kochnische und separatem Bad, gerade genug Platz für ein Bett, ein Sofa, einen kleinen Tisch und eine Voliere. Zwei Vögel flattern durch den Raum. «Nymphensittiche», beantwortet Smiley meinen fragenden Blick und erklärt, dass Vögel, überhaupt Haustiere, sie an ihre früh verstorbene Mutter erinnern. Sie lacht und bringt mir einen Tee.
Humor spielt in deiner Arbeit eine wichtige Rolle. Woher kommt das?
Ich habe das Lachen ja in meinem Namen und diesen habe ich sehr bewusst gewählt: Living Smile. Er ist genderneutral und global und spiegelt meine Lebenseinstellung wider. Ich will nicht einfach überleben – auch wenn ich seit vielen Jahren vor allem damit beschäftigt bin –, ich will leben und ich will dabei lachen können. In meiner Muttersprache, dem Tamilischen, gibt es Dutzende von Ausdrücken, um das lachende Leben, um Glück und Zufriedenheit zu beschreiben. Im Vergleich zu dieser Vielfalt ist «Living Smile» eine etwas banale Verkürzung, aber immerhin international verständlich.
Schwingt da auch so etwas wie Galgenhumor mit?
Schon, ja. Ich sage mir: Ich habe nichts, also kann ich genauso gut lachen. Auch wenn mich oft Depressionen plagen oder sogar suizidale Gedanken, möchte ich fröhlich sein, möchte spielen können, möchte tanzen. Eine Zeitlang habe ich in Chennai als Bettlerin auf der Strasse gelebt, arm, ausgegrenzt. Doch ich bin immer lachend auf die Menschen zugegangen. Nur wenn du fröhlich bist, wirst du akzeptiert. Und, hey, wenn das Leben mir die Rolle der Bettlerin zuspielt, versuche ich sie so witzig wie möglich zu spielen.
Im Alltag erleben wir oft unfreiwilligen Humor. Gab es solchen auch in deinem bisher nicht besonders erheiternden Asylverfahren?
Meist merken wir ja erst im Rückblick, wie komisch etwas ist. Im Moment selbst sehen wir vor allem den Ernst einer Sache. Spontan kommt mir eine wirklich absurde Geschichte in den Sinn, die ich erlebt habe, als die Beamt:innen meine Daten registrierten. «Sie sind also weiblich. Wann hatten Sie die letzte Periode? Sind Sie schwanger?», wurde ich gefragt. Ich habe versucht zu erklären, dass ich zwar weiblich bin, aber nie blute und auch nicht schwanger werden kann, obwohl ich Kinder durchaus mag. «Das geht nicht», sagte die Beamtin und dass sie etwas eintragen müsse, weil das Formular sonst unvollständig sei und nicht abgespeichert werden könne. Wir haben uns dann auf ein fiktives Datum für meine letzte Blutung geeinigt. Dass im Schweizer Asylsystem eine Menstruation von mir herumgeistert, belustigt mich im Nachhinein sehr.
Dank Bollywood, der indischen Filmindustrie, ist die Schweiz in deiner Heimat bekannt. In den oft aufregenden Liebeskomödien liefern unsere Berge die romantische Kulisse. Du lebst seit sechs Jahren hier, als Geflüchtete mit ungeklärtem Status. Wie hat sich dein Bild der Schweiz in dieser Zeit verändert?
Ich kam im Rahmen eines Austauschprojekts im Februar 2018 nach Zürich und entschied mich, aufgrund der zunehmenden Repression einen Asylantrag zu stellen. Unter Premierminister Narendra Modi entwickelt sich Indien zunehmend zu einem autoritären und autokratischen Hindu-Staat, der Andersdenkende unterdrückt. Vor meiner Reise in die Schweiz wurde ich tätlich angegriffen und telefonisch terrorisiert und es war klar, dass mir nur das Exil Sicherheit bieten kann. Wie alle hatte auch ich stereotype Vorstellungen von der Schweiz: Schokolade, Uhren, Berge, Banken, schwarzes Geld. Das relativiert sich im Alltag natürlich schnell. Schwer tue ich mich mit dem Winter, der Kälte. Ich gehe gerne barfuss und hasse es, wenn ich Schuhe tragen muss. Meine Flitterwochen mit dem Schnee dauerten knapp zehn Minuten! Abgesehen davon gefällt mir die Mentalität der Menschen. Sie lassen einander in Ruhe. Ich erlebe hier kein Catcalling, keiner pfeift mir nach oder macht mich an, keiner starrt, wenn ich rote Schuhe trage oder einen kurzen Rock, keiner belästigt mich.
Wie erlebst du die Schweiz als Fluchtland? Wie ergeht es dir als Asylsuchende mit dem hiesigen System?
In vielerlei Hinsicht ist die Schweiz ein fortschrittliches Land, doch was den Umgang mit queeren und trans Menschen angeht, hinkt das System der Wirklichkeit hinterher. Die Asyl- und Durchgangsheime sind überhaupt nicht auf uns vorbereitet. Du findest dort ein cis-heteronormatives System im Miniaturformat. Niemand geht auf unsere Bedürfnisse und Fragen ein und es gibt keinerlei Informationen dazu, wie du dich als queere oder trans Person in der Schweiz sicher fühlen kannst. Niemand weiss, wie vorzugehen ist, wenn Menschen wie ich zum Beispiel von anderen Asylsuchenden schikaniert oder eingeschüchtert werden. Es braucht Aufklärung und klare Regeln, damit auch wir willkommen sind.
Dein Asylverfahren ist nicht abgeschlossen. Was heisst das für deinen Alltag?
Ich darf gemäss Gesetz nicht arbeiten. Wenn ich also mit meinem Stück auftreten oder an Proben für ein Theater- oder Filmprojekt teilnehmen will, muss ich entsprechende Bewilligungen einholen – in jedem Kanton eine andere Bewilligung, in jedem Kanton ein anderes Verfahren. Das ist aufwändig und mühsam und ich habe deswegen auch schon Anfragen abgesagt. Aber alles in allem bin ich vor allem dankbar, dass ich hier sein kann, dass ich in Sicherheit bin.
Im März 2023 erschien in diesem Magazin ein Porträt über dich unter dem Titel «Smiley will arbeiten». Arbeit ist zentral für dich, auf und neben der Bühne. Wie bist du zum Theater gekommen?
Mich interessiert in erster Linie die Schauspielerei. Schon als Kind habe ich es geliebt, mich zu verkleiden, mich in die Rolle einer anderen zu begeben. Ich habe Gangarten imitiert und Gesten, gesungen und getanzt und stellte mir vor, wie die Paparazzi mich verfolgen, weil sie mich, die berühmte Diva, fotografieren wollen. Ich wusste, dass ich Schauspielerin bin, bevor ich wusste, dass ich eine Frau bin. Über das Schauspiel habe ich meine Weiblichkeit entdeckt. Ich spielte Frauenfiguren und merkte dabei: Das ist nicht nur eine Rolle, das bin ja ich!
Die Schauspielerei als Leben und als Möglichkeit, ein Leben zu entdecken?
Genau! Im Spiel entdecke ich immer wieder neue Seiten an mir. Umgekehrt überprüfe ich alles, was ich erlebe, sofort auf seine Spielbarkeit. Manchmal ist das auch eigenartig: Ich erlebe eine schlimme Situation, eine Demütigung oder eine Gefahr, bin mitten in der Wirklichkeit und stehe zugleich daneben. Ich versuche mir alles genau zu merken, um es vielleicht später einmal spielen zu können. Ich schaue von aussen auf mich selbst wie auf eine Filmfigur. Alles, was mir passiert, ist Material für die Bühne.
Stichwort Filmfigur: Nach zahlreichen Auftritten in indischen Produktionen hattest du kürzlich eine Rolle in einem Schweizer Film. «Die Anhörung» rekonstruiert in Form einer Dokufiktion die Befragung von vier Asylbewerber:innen und wurde unter anderem mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet. Wie hast du die Arbeit an diesem Film erlebt?
Lisa Gerig, die Regisseurin, ist eine unglaublich feinfühlige Person. Sie hat das ganze Team auf Augenhöhe behandelt und in jedem Moment dafür gesorgt, dass wir uns wohlfühlen, so wohl, wie du dich eben fühlen kannst, wenn du deine Anhörung im Asylverfahren noch einmal durchlebst. Das ist nicht lustig, das ist traumatisch, das wusste ich. Doch wenn ich meine Geschichte nicht erzähle, wer dann? Beim Dreh habe ich mir immer wieder gesagt, dass es vor allem um das Publikum geht, nicht um mich, dass es darum geht – über mein Einzelschicksal hinaus –, für die Rechte von Queers, Dalit und Asylsuchenden einzustehen. Kunst ist für mich nach wie vor die beste Art, politisch zu sein.
Living Smile Vidya lebt seit einigen Jahren in der Schweiz, bisher mit einem N-Ausweis, der jede Erwerbstätigkeit verbietet. Ein Rekurs gegen den abgewiesenen Asylantrag ist hängig. Ihre Geschichte erzählt die Performerin in ihrem Stück «Introducing Living Smile Vidya», das im Juni am Impulse Theater Festival in Köln zu sehen sein wird.
Geboren 1982 in Tamil Nadu, leistete Living Smile Vidya in Indien Anfang der Nullerjahre politische Pionierarbeit: Sie war die erste trans Frau, die offiziell einen neuen Namen annehmen durfte, und die erste trans Frau, die einer geregelten Arbeit nachgehen konnte. Ihre Autobiografie wurde 2015 verfilmt und national und international ausgezeichnet.
Wie bist du zur Aktivistin geworden?
Ich stamme aus einer sogenannten «lowest cast» Familie. Als Dalit bin ich mit Diskriminierung aufgewachsen. Die Schriften von E. V. Ramasamy, dem Vordenker des Self Respect Movement, haben mich stark beeinflusst. Die Bewegung verlangt die Abschaffung des Kastensystems und des Hinduismus als Staatsreligion. Auch die Ideen von B. R. Ambedkar, dem Pionier der Dalit-Bewegung, sind für mich wichtig. Von ihm habe ich gelernt, dass wir ein Recht haben zu kämpfen und dass wir für unsere Rechte kämpfen müssen. Ich tue das, indem ich an Demonstrationen teilnehme, aber ich bin gegen jede Form der Gewalt. Mein Werkzeug des Protests ist die Performance.
Du bist auch in der Schweiz aktiv, äusserst dich in den sozialen Medien, trittst als Performerin auf. Wie erlebst du die queer-feministische Bewegung hier?
So allgemein kann ich nicht viel dazu sagen. Ich lebe erst seit sechs Jahren in der Schweiz und habe kaum Möglichkeiten zu reisen. Was mir auffällt, ist die gute Zusammenarbeit zwischen feministischen Organisationen und Organisationen, die sich für queere und trans Menschen einsetzen. In Indien ist dieses intersektionale Denken noch nicht angekommen. Es fehlt dort an grundsätzlichen Dingen, die hier längst selbstverständlich sind: Zugang zu medizinischer Versorgung, zu psychologischer Betreuung, zu Sozialhilfe. Gleichzeitig hat mich überrascht, wie spät hier das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, und auch was die Reche von trans Menschen angeht, ist die Schweiz etwas langsam.
Smiley, wir reden schon seit gut zwei Stunden. Ich werde in meinem Beitrag nicht alles wiedergeben können. Womit soll ich unser Gespräch abschliessen?
Schreib, dass ich einfach arbeiten will, auftreten will, auf der Bühne, im Film und gerne auch auf Plakaten. Alles ist voll mit Werbung, doch trans Menschen sind nirgends repräsentiert. Bucht mich für eure Kampagne! Hire me!