01.07.24
Finanzlöcher am Horizont
Der Kanton Luzern will seine Tiefsteuerstrategie aktualisieren, und bereits zeichnet sich ab, dass ihm in wenigen Jahren Hunderte Millionen Franken fehlen werden. Das weckt Erinnerungen an die Zeit der chaotischen Sparübungen – und den Widerstand dagegen.
Raphael Albisser (Text), Roberto Conciatori und Ralph Eichenberger (Bild)
Sie haben dem Kulturdirektor Dutzende Kondolenzbriefe mit einem Zehnernötli geschickt, als Trauerbatzen für die verstorbene Kulturförderung. Sie stiegen bei garstigstem Wetter in den See, um sich vor dem KKL als patschnasse Gäste unters Publikum des Lucerne Festival zu mischen. Sie haben auf dem Theaterplatz eine «Landsgmeind» mit über tausend protestierenden Besucher:innen abgehalten. Sie sammelten Zehntausende Franken, um einen Dokumentarfilm zur ruinösen Steuer- und Sparpolitik des Kantons Luzern in Auftrag zu geben.
Kaum zu glauben, aber sieben Jahre ist der Aufstand der freien Kulturschaffenden bereits her. Wer erinnert sich? Die Kantonsfinanzen waren dermassen in Schieflage geraten, dass unter Finanzdirektor Marcel Schwerzmann Sparpaket um Sparpaket geschnürt werden musste. Schüler:innen und Lehrpersonen wurden in die Zwangsferien geschickt, den Kantonsangestellten die Wochenarbeitszeit aufgestockt, Mittel in allen möglichen Bereichen gekürzt – vom Gesundheits- übers Sozial- und Asylwesen bis hin zum öffentlichen Verkehr. Tausenden Familien wurde der Anspruch auf Prämienverbilligung gestrichen, bis sogar das Bundesgericht intervenierte. Immer kopf- und planloser wurden die Sparübungen in Luzern.
2017 traf es das freie Kulturschaffen besonders hart: Von den zwei Millionen Franken, die das Bildungs- und Kulturdepartement jährlich an Beiträgen zur Verfügung stellte, wurden 800 000 Franken kurzerhand gestrichen. 40 Prozent. Angesichts Hunderter Millionen, die dem Kanton damals fehlten, war das ein marginaler Betrag – für die freie Szene aber war er existenziell. «Das war der Moment, in dem ich fand: Jetzt muss etwas passieren», erinnert sich Catherine Huth, die den Stein des Protests gemeinsam mit anderen ins Rollen brachte. Sie lancierte die erste Protestaktion mit den Kondolenzbriefen, vernetzte Menschen aus allen möglichen Sparten, war fortan eine von zahlreichen Triebfedern im kreativen Aufbäumen. «Organisiert unorganisiert» sei man vorgegangen gegen die ideologisch verbohrte Finanzpolitik, die eine damals komplett bürgerliche – und komplett männliche – Kantonsregierung stoisch vorantrieb. Der Widerstand war chaotisch wie die Sparpolitik selbst.
Catherine Huth arbeitet unter anderem als Szenografin und ist Stiftungsratspräsidentin des Gelben Hauses. Von 2009 bis 2014 war sie Geschäftsleiterin der IG Kultur Luzern, der Herausgeberin dieses Magazins. Aber ihr energisches Engagement gegen die Sparpolitik kam aus institutionell unabhängiger Motivation, wie sie sagt.
Jahrelang mussten unzählige Luzerner:innen für eine Steuerpolitik bezahlen, die auf die Gunst von Grossunternehmen und reichen Privatpersonen abzielte.
«Ich hatte eine unglaubliche Wut im Bauch», so Huth. Erzürnt hat sie insbesondere die Geringschätzung des damaligen CVP-Kulturdirektors Reto Wyss. «Der Lohn eines Künstlers ist der Applaus», so lauteten die unvergessenen Worte, die er ganz unverfroren an die Kulturschaffenden des Kantons zu richten wusste. «Diese Respektlosigkeit, diese Arroganz!», sagt Huth.
Rennen in den Abgrund
Wie war Luzern überhaupt in diese Schieflage geraten? Es war September 2008, als der Regierungsrat verkündete, im nationalen und internationalen Steuerwettbewerb noch einen Zacken zuzulegen. Eine «konsequente, auf die Attraktivität des Standorts Luzern ausgerichtete Steuerpolitik» werde neue Steuerzahler:innen und Firmen anlocken und Ansässige vom Abwandern abhalten. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich der Kanton in den Strudel des Steuerwettbewerbs begeben, und der nächste Schritt sollte ein besonders grosser werden. «Der Regierungsrat betrachtet Steuerentlastungen als Investition in die Wettbewerbsfähigkeit des Kantons Luzern», hiess es in der Botschaft, in der unter anderem eine Halbierung der Gewinnsteuer für Unternehmen und somit ein globaler Spitzenplatz ab 2012 angekündigt wurde. «Der Sinn einer Steuersenkung ist es, dass man im Endeffekt mehr einnimmt», versprach Finanzdirektor Schwerzmann, ein ausgewiesener Ideologe von Steuerwettbewerb und schlankem Staat, im Abstimmungskampf.
Steuerwettbewerb: Das ist dann, wenn sich Niederlassungsorte auf der ganzen Welt gegenseitig in der Besteuerung reicher Menschen und grosser Firmen unterbieten. Bekanntermassen birgt dies zwei grosse Probleme: Erstens befeuert das Wettrennen nach unten den globalen Trend, öffentliche Auf- und Ausgaben zurückzubinden. Wer mit seinen Steuersätzen ganz runtergeht, erntet damit am Ende vielleicht tatsächlich mehr Geld. Bestes Beispiel sind Luzerns innerschweizerische Nachbarkantone, etwa Zug, der gar nicht mehr zu wissen scheint, was es mit all dem erbeuteten Steuersubstrat anstellen soll. Auf Kosten des grossen Rests der Welt, der von globalen Steueroasen Jahr um Jahr um unzählige Milliarden an potenziellen Staatsvermögen geprellt wird.
Zweitens geht die Rechnung auch dort, wo der Reichtum hingelockt wird, nicht zwingend auf. Bestes Beispiel ist Luzern, das – entgegen Schwerzmanns Versprechen – jahrelang unter den eigenen Prognosen geblieben und, nicht zuletzt aufgrund der kantonseigenen Schuldenbremse, in akuten Sparzwang geschlittert ist. 2016 kündigte die Regierung an, über drei Jahre hinweg eine Finanzierungslücke von 520 Millionen Franken stopfen zu müssen. Das machte «eine breit gefächerte und ausgewogene Kombination von Massnahmen» nötig, wie sie verlauten liess.
Mit den bekannten Folgen. Jahrelang mussten unzählige Luzerner:innen für eine Steuerpolitik bezahlen, die auf die Gunst von Grossunternehmen und reichen Privatpersonen abzielte. 2021 kamen die zwei Wirtschaftswissenschaftler David Staubli und Matthias Krapf in einer Studie zum Schluss, dass der Kanton Luzern ohne radikale Tiefsteuerstrategie finanziell wohl deutlich besser gefahren wäre. Das Bild mag sich mittlerweile gewandelt haben, wie auch die jüngsten Prognosen zum laufenden Jahr bestätigen: Einer konservativen Ausgabenpolitik stehen in Luzern regelmässig überraschend hohe Einnahmen gegenüber. So fuhr der Kanton seit 2018 hohe Überschüsse ein, teils dank stark angestiegener Steuereinnahmen – was aber vor allem auf den Zuzug einiger weniger Firmen zurückzuführen ist, in deren Abhängigkeit sich der Kanton steuerpolitisch begibt: Deren Goodwill wird man sich künftig doch keinesfalls verspielen wollen.
Alles nochmal von vorne?
2019, also just zu Beginn der fetten Jahre, wurde der parteilose Schwerzmann nach einem durchzogenen Wahlresultat von seinen Regierungskollegen vom Finanzdepartement abgezogen und als Kulturdirektor installiert. Letztes Jahr ist er zurückgetreten.
Als Finanzdirektor ersetzt hat ihn vor fünf Jahren: Reto Wyss. Mit Schwerzmann mag das Gesicht der Luzerner Tiefsteuerpolitik in den Hintergrund getreten sein, aber von dessen Strategie ist der Kanton freilich nicht abgerückt. Und so werkelt der Kanton Luzern munter weiter an kleineren und grösseren Massnahmen, um seine Standortattraktivität auszubauen. Umso mehr, seit die OECD, der internationale Verbund von 38 wirtschaftsstarken Ländern, vor drei Jahren entschied, dem ruinösen Treiben mithilfe einer Mindestbesteuerung von Firmengewinnen zu begegnen. Jene Schweizer Kantone, die mit ihren Steuersätzen bislang unter dem nun geltenden Minimum von 15 Prozent lagen, drohten ihren Standortvorteil zu verlieren – so auch Luzern.
Mittlerweile ist längst klar, dass der Steuerwettbewerb mit der OECD-Mindestbesteuerung nicht ausgehebelt, sondern ganz einfach auf andere Faktoren verschoben wurde. In seiner Botschaft vom 19. September 2023 klingt es im Luzerner Regierungsrat jedenfalls fast, als wäre wieder 2008: «Um das Abwanderungsrisiko der potenziell betroffenen Unternehmen zu reduzieren, müssen nachhaltig attraktive Standortbedingungen im Steuerrecht und auch ausserhalb des Steuerrechts geboten werden.»
Nachdem das Geschäft die parlamentarischen Schlaufen durchlaufen hat, stehen die Massnahmen im Rahmen der Steuergesetzrevision 2025 fest: Unter anderem sollen die Kapitalsteuern für Unternehmen von 0,5 auf 0,01 Promille gesenkt werden – also praktisch gestrichen. Die Besteuerung von Gewinnen aus Patenten soll massiv sinken. Längst zeichnet sich als Reaktion auf die OECD-Mindestbesteuerung in der Schweiz zudem ein Subventionierungswettbewerb ab, an dem sich die Regierung beteiligen will: «Auch im Kanton Luzern sollen nichtfiskalische Massnahmen den internationalen und nationalen Wettbewerbsnachteil infolge höherer Steuern mindestens teilweise kompensieren», liess die Regierung in ihrer Botschaft wissen.
Am 22. September wird die Stimmbevölkerung über die Steuergesetzrevision 2025 abstimmen. Um sie mehrheitsfähig zu machen, wurden darin auch Anliegen berücksichtigt, die nicht nur Firmenchef:innen zugutekommen: Tiefe Einkommen und Familien werden entlastet, Sozialabzüge sowie Abzüge für Kinder und deren Drittbetreuung steigen. Profitieren werden aber erneut vor allem reiche Privatpersonen und internationale Unternehmen. Aus den Zahlen des Kantons geht zudem hervor: Ab 2028 ist mit Steuerausfällen von jährlich 180 Millionen Franken bei Kanton und Gemeinden zu rechnen – und das auf Basis von wirtschaftlichen Schönwetterprognosen. Wo der Regierungsrat wohl seinen Rotstift ansetzen wird, wenn er plötzlich wieder in Spar-
panik gerät?