01.01.24
Film
Fragen an die Wahrheit
Der Dokumentarfilm «Die Anhörung» von Lisa Gerig ist ein moderner und klug gestalteter Anschauungsunterricht zur menschlichen und unmenschlichen Seite des Schweizer Asylverfahrens.
Till Brockmann (Text) und Lisa Gerig (Filmstills)
Inszenierung im Dokumentarfilm, soweit diese offengelegt wird, ist längst nicht mehr ein filmisches Mittel, das mit dem Authentizitätsanspruch des Genres als unvereinbar gilt. «Cleveland Versus Wall Street» (2010) von Jean-Stéphane Bron oder Milo Raus «The Congo Tribunal» (2015) sind nur zwei spannende Werke aus dem Schweizer Filmschaffen der letzten Jahre, die darauf zurückgreifen. In beiden Fällen handelt es sich um Inszenierungen von Gerichtsverhandlungen, die so nie stattgefunden haben, aber real existierende gesellschaftliche Wunden mit den tatsächlich Betroffenen und «echtem» Gerichtspersonal aufarbeiten.
Auch Lisa Gerigs «Die Anhörung» geht diesen Weg. Zu Beginn ihres Dokumentarfilms informiert eine Schrifttafel sowohl über die Beschaffenheit als auch den Grund ihrer Versuchsanordnung: «Asylanhörungen sind nicht öffentlich. Für den Film stellten Asylsuchende und Mitarbeitende des Staatssekretariats für Migration (SEM) eine reguläre Anhörung nach.» Zwei Männer und zwei Frauen aus Afghanistan, Indien, Kamerun und Nigeria wurden vom Filmteam in ein anonymes Bürogebäude eingeladen; ebenfalls anwesend sind neben den SEM-Mitarbeiter:innen, welche die eigentliche Befragung durchführen, Übersetzerinnen, eine Protokollführerin und manchmal eine Rechtsvertretung der Asylsuchenden. Der Film dokumentiert zudem nicht nur die Anhörungen, sondern zeichnet auch Gespräche in den Drehpausen sowie einige Interviews mit den Betroffenen auf.
Schmerzliches Erzählen
Wer nun befürchtet, die für das dokumentarische Projekt (nach)gestellten Situationen würden trocken oder etwas zu berechnend daherkommen, wird eines Besseren belehrt. Die Intensität der Gefühle, die Transparenz des Leidens ist während der Befragungen so gross, dass das nur «theoretische» Setting sofort als Nebensächlichkeit vergessen geht und jeder Zweifel über die inszenatorische Künstlichkeit sogleich von der Wucht biografischer und emotionaler Wahrhaftigkeit beseitigt wird. Doch es ist nicht nur die empathische Teilnahme an den immer berührenden, oft auch erschreckenden Schicksalen, die fesselt. Unweigerlich befasst man sich auch mit dem Verfahren an sich und hinterfragt dessen Tauglichkeit dafür, die Rechtmässigkeit eines Asylantrags festzustellen. Auf der einen Seite die staatliche Institution, die abwägen muss, ob die Antragsteller:innen tatsächlich einer Gefährdung des Leibes oder Lebens in ihrem Herkunftsland ausgesetzt sind, oder sogar, ob die von ihnen geschilderten Vorkommnisse überhaupt der Wahrheit entsprechen. Auf der anderen Seite (sichtlich eingeschüchterte) Menschen, denen die Chance gegeben wird, ihre Situation darzulegen, um Schutz zu bekommen, was aber zugleich heisst, dass sie jedes Recht auf Privatsphäre abzulegen haben. Ausserdem müssen sie alles möglichst präzise, lücken- und widerspruchslos erläutern, was bei Ereignissen, die teilweise Jahre zurückliegen und dazu noch mit grossem seelischem Schmerz verbunden sind, eine fast nicht zu meisternde Aufgabe ist. Die nicht einmal böse gemeinten Nachfragen der SEM-Mitarbeiter:innen verraten überdies, dass diese nicht unbedingt an den Fakten als solchen, sondern eher daran interessiert sind, wie beweisbar diese Tatsachen sind. Dadurch schwebt unwillkürlich immer wieder der Verdacht im Raum, dass man den Asylsuchenden ihre Geschichten eigentlich nicht glaube. Zuweilen scheint es eher um ein Verhör als um eine Anhörung zu gehen.
Unweigerlich befasst man sich auch mit dem Verfahren an sich und hinterfragt dessen Tauglichkeit dafür, die Rechtmässigkeit eines Asylantrags festzustellen.
Wer fragt, hat Macht
Obwohl die Sympathien von Natur aus immer bei den Schwächeren liegen, gibt sich Lisa Gerig dennoch Mühe – auch was Kamerapositionen und Montage anbelangt –, die Mitarbeiter:innen des Migrationsamtes nicht summarisch anzuprangern oder gar lächerlich zu machen. Sie sind nicht zuletzt Spielfiguren in einer heiss geführten gesellschaftspolitischen Debatte und bei ihrer täglichen Arbeit mit Aufgaben betraut, die von vornherein ihre Kompetenz übersteigen. Von einem Menschen, der durch Folter oder Vergewaltigung tief traumatisiert wurde und womöglich über diese Tatbestände gar nie offen gesprochen hat, zu verlangen, er solle nun innerhalb eines Asylverfahrens im Detail darüber Auskunft geben, ist per se ein erschreckender Plan. Solche Befragungen sollten eigentlich nur von psychologisch geschultem Fachpersonal geleitet werden, wenn möglich in einem therapeutischen Zusammenhang, und nicht von beflissenen Bürokrat: innen einer Einwanderungsbehörde. Hier tritt die staatlich-juristische Rechtmässigkeit der ethischen Legitimität, oder sagen wir doch einfach der Menschlichkeit, hart auf die Füsse.
Um die Machtverhältnisse nochmals zu veranschaulichen und besonders um sie umzukehren, zieht Gerig dann noch einen klugen Trick aus dem Ärmel: Gegen Ende des Films, ganz ohne Vorankündigung, vertauschen sich die Rollen und die Asylsuchenden befragen nun die Mitarbeiter:innen des Staatssekretariats zu ihrer Arbeit und ihrer Einstellung dazu. Und das mit der gleichen Methodik und Strenge, wie sie zuvor befragt wurden. Das ist ein wunderbarer Anschauungsunterricht darüber, welche Position der Stärke man als «offiziell» Fragende:r hat und wie leicht man als Befragte:r in Bedrängnis gerät, wenn man verbindlich Rede und Antwort stehen muss. Allerdings dürfen auch die Bürokrat:innen, genauso wie die Asylsuchenden zuvor, die Antwort verweigern; eine Weigerung, auch das wie zuvor, die einem dann meistens zum Nachteil ausgelegt wird. So wird eine Mitarbeiterin gefragt, ob sie meine, dass das Schweizer Asylverfahren fair sei. Darauf könne sie in ihrer Position leider keine Antwort geben, entgegnet diese.
«Die Anhörung» bringt mit einer ebenso nüchternen wie eleganten filmischen Form konsequent brenzlige und auch ungemütliche gesellschaftliche Fragen zur Diskussion – ungemütlich deshalb, weil für die meisten Problematiken wohl auch wir keine allgemeingültige Lösung wüssten. Genau das muss ein guter Dokumentarfilm leisten.