01.06.24
Kunst
«Es ist nicht nur meine Geschichte, die erzählt wird»
Ein Asylantrag, der seit sieben Jahren hängig ist. Welche Handlungsspielräume gibt es in dieser juristisch ausweglosen Situation? Dieser Frage widmet sich Bertilla Spinas in ihrem Abschlussprojekt an der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit Osman Duruk ist eine künstlerische Recherche entstanden.
Giulia Bernardi (Interview) und Bertilla Spinas (Filmstills)
Ihr habt euch im letzten halben Jahr einer gemeinsamen Recherche gewidmet, die Teil von Bertillas Abschlussprojekt an der Hochschule Luzern ist. Darin geht es um die Frage, wie man sich Handlungsspielräume künstlerisch erarbeiten kann, in einer Situation, in der man praktisch keine hat. Der Ausgangspunkt der Recherche ist Osmans Asylantrag, der seit sieben Jahren hängig ist. Wie ist das Projekt entstanden?
Bertilla Spinas: Wir haben uns vor vier Jahren kennengelernt, seitdem verbindet uns eine enge Beziehung, in der Osmans Situation ein unumgängliches Thema ist und uns permanent beschäftigt. Osman hat in dieser Zeit immer wieder Briefe an den zuständigen Richter vom Bundesverwaltungsgericht geschrieben, die diesen daran erinnern sollten, dass das Warten in diesem Ausmass kein menschenwürdiger Zustand ist. Ich habe diese Briefe jeweils gelesen und hatte den Eindruck, dass es etwas Dringliches an sich hat, sich als Mensch diesem Gericht zu zeigen, weil man schnell zu einer Akte auf einem Stapel wird. Ich fand den Ansatz clever, weil er offenlegt, dass Richter:innen keine neutralen Instanzen sind und ihre persönliche Prägung mit in ihren Beruf nehmen. Mit dieser Überlegung hat Osman schon immer gespielt, und daraus entstand die Idee, solche widerständigen Handlungsspielräume zu untersuchen und zu dokumentieren. Dann habe ich Osman gefragt, ob er Lust hat, diese Recherche gemeinsam zu machen.
Osman Duruk: Bertilla ist mit der Idee für ihr Abschlussprojekt auf mich zugekommen, worauf wir viel darüber gesprochen haben, worum es genau gehen soll. Es ist schnell klar geworden, dass es nicht um das Erkämpfen meiner Bewilligung gehen kann, sondern um das Schweizer Asylwesen und um die Verfahrensdauer. Den letzten Brief an das Bundesverwaltungsgericht habe ich im August geschrieben. Seitdem warte ich auf eine Antwort. Diese Ignoranz empfinde ich als respektlos und die Migrationsbehörden finden immer neue Gründe dafür, dass alles so lange dauert, Pandemie, Krieg in der Ukraine und so weiter. Da frage ich mich: Wie arbeitet ihr eigentlich? Ich wollte wissen, wie das Gericht auf Provokation reagiert und ob sie sich unter Druck setzen lassen.
In eurer Recherche geht es um hypothetische Handlungsspielräume, um die Frage, was in einer ausweglosen Situation alles möglich sein kann. Welche Handlungsspielräume habt ihr bisher gefunden?
OD: Vor ein paar Monaten sassen wir in meiner WG und haben einfach mal aufgeschrieben, was alles möglich wäre: Heirat, Demonstrationen, Hungerstreik, persönliche Beziehungen zum Richter aufbauen, um neu zugeteilt zu werden …
BS: … eine Beschwerde wegen Verfahrensverzögerung, Druck durch die Medien, durch politische Vorstösse, Brieftauben.
Heiraten, Hungerstreik … Es klingt heftig, dass solche Massnahmen plötzlich als valable Optionen erscheinen. Gibt es neben der hypothetischen Auslegeordnung, die ihr für das Projekt vornehmt, auch Punkte, die ihr konkret umsetzen möchtet?
BS: Im Rahmen der künstlerischen Arbeit ist der Briefaustausch mit dem Bundesverwaltungsgericht und dem zuständigen Richter umgesetzt. Das ist etwas, das Osman schon in der Vergangenheit gemacht hat und das wir nun gemeinsam fortführen. Weitere Handlungen werden im Projekt eher skizziert und wir lassen offen, was wir vielleicht später umsetzen werden, aber nicht in diesem Projekt.
Wenn ihr über diese Handlungsspielräume nachdenkt: Gibt es auch Massnahmen, bei denen ihr euch uneinig seid?
BS: Osman ist viel risikobereiter, macht sich nicht so viele Gedanken darüber, ob sich etwas negativ auf sein Asylverfahren auswirken könnte, weil er eh schon seit sieben Jahren wartet. Ich erinnere mich, dass du mal gesagt hast, dass nichts schlimmer sei, als warten gelassen zu werden.
OD: Stimmt, das habe ich mal gesagt.
BS: Ich verstehe das, und gleichzeitig könnte ich es nicht aushalten, wenn unsere Handlungen – zum Beispiel mit diesem Projekt – eine Verschlechterung des Verfahrens zur Folge hätten. Dieses Risiko möchte ich nicht eingehen.
OD: Ich wäre bereit, dieses Risiko einzugehen. Die Migrationsbehörden verschaffen sich Macht, indem sie einem den Mut zum Widerstand nehmen, und gleichzeitig bringen sie den Menschen im Asylverfahren keinen Respekt entgegen. Das Gericht muss man immer respektieren, sich schön anziehen, seine Bedeutung anerkennen. Diese Hierarchie will ich brechen, und das bedeutet, risikobereit zu sein.
Osman, welche Einschränkungen bedeutet dieser hängige Asylantrag für deinen Alltag?
OD: Im Kanton Luzern kann ich mit einem N-Ausweis eine Arbeitsbewilligung beantragen, das ist nicht in allen Kantonen so. Dennoch bekomme ich auf meine Bewerbungen oft eine Absage mit der Begründung, ich hätte einen «unsicheren» Aufenthaltsstatus. Ähnlich ist es beim Mietvertrag. Ich muss Leute finden, die bereit sind, mir einen Untermietvertrag zu geben. Ich kann nicht ins Ausland reisen. Das war schwierig, als Bertilla ein Austauschsemester in Wien gemacht hat. Diese Unsicherheit ist auch psychologisch eine Herausforderung. Aber es ist mir bewusst, dass die Migrationsbehörden noch viel schrecklichere Szenarien in Kauf nehmen. Sie lassen Menschen jahrzehntelang in unterirdischen Nothilfeunterkünften warten und nehmen ihnen das Recht auf Arbeit.
«Den letzten Brief an das Bundesverwaltungsgericht habe ich im August geschrieben. Seitdem warte ich auf eine Antwort.»Osman Duruk
Eure Recherche wird im Rahmen der Ausstellung «I Was Talking about Tomorrow» als Videoessay dokumentiert. Was wird das Publikum erwarten?
OD: Es ist ein Einblick in die ungerechte Gesetzeslage, in der sich Geflüchtete in der Schweiz befinden. Aber wir wollen auch zeigen, dass Mut im Reich der Angst entstehen kann.
Ich habe kürzlich einen Text von Édouard Louis im «Jacobin Magazine» gelesen, der mir irgendwie geblieben ist. Louis hat geschrieben, dass man sich das eigene Leben, die eigene Geschichte nicht aussuche und es deswegen wichtig sei, dass jemand anderes diese Geschichte für einen erzähle. Dass man das Recht habe, so der französische Autor, nicht den früheren Schmerz oder die Gewalt zu ertragen, sondern dass das jemand anderes für einen tue. Wie wirkt diese Überlegung auf euch?
OD: Das ist nicht unbedingt meine Geschichte, die erzählt wird, es ist auch eure. Wir sind alle dafür verantwortlich, was den Menschen in der Schweiz passiert. Jemand muss das zeigen und Verantwortung dafür übernehmen.
BS: Es stimmt, was Osman sagt. Es ist ja nicht einfach seine Geschichte, auch ich zeige meine Position und meine Perspektive, ebenso Osmans Anwalt und andere Akteur:innen.
Wie geht ihr damit um, dass ihr unterschiedliche Ausgangslagen, nicht die gleichen Privilegien habt?
BS: Dass wir unterschiedlich privilegiert sind, ist kein neues Thema für uns. Damit mussten wir uns immer wieder auseinandersetzen. Dies hat den Vorteil, dass unsere Gesprächsbasis schon erarbeitet ist und wir alles ausdiskutieren können. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit nur deswegen überhaupt in dieser Form möglich ist. Dennoch habe ich mir immer wieder Sorgen gemacht, dass es so wirken könnte, als ob ich Osmans Situation instrumentalisieren würde.
OD: Viele Menschen in meinem Umfeld haben andere Privilegien als ich, das ist nicht nur bei Bertilla so. Das ist an sich kein Problem für mich, aber es ist ein Thema, bei dem ich immer wieder an das System erinnert werde, in dem ich mich befinde. Und manchmal, an einigen Abenden, wenn wir um ein Feuer sitzen, verschwinden die Privilegien und machen einer Umgebung Platz, in der alle gleich sind.
BS: In Bezug auf das Projekt ist die Frage wichtig, wie man seine Privilegien nutzt. Ich möchte ja nicht, dass nur Betroffene über das Asylwesen sprechen müssen. Ich finde die Rolle von Nicht-Betroffenen sehr wichtig, insbesondere, wenn sie der Stimmbevölkerung in diesem Land angehören und den Migrationsbehörden Rückhalt geben. Ich hatte zum Beispiel zuerst Mühe damit, das Projekt im Rahmen der Hochschule umzusetzen. Gleichzeitig hätte ich sonst die Mittel dafür nicht, ich hätte keinen Schnittraum, keine Kameras. Und diese Ressourcen werden leider eher privilegierten als marginalisierten Personen zuteil.
Warum hattest du Mühe?
BS: Weil ich einen Abschluss kriege, vielleicht auch Aufmerksamkeit. Was hat Osman davon?
OD: Ich bekomme auch was dafür. Ein Gefäss für Widerstand.
Was erhofft ihr euch von diesem Projekt?
BS: Das Wichtigste besteht für mich darin, die Handlungsspielräume abzustecken und mich mal richtig damit zu befassen, was hier eigentlich genau vor sich geht. Ich möchte die juristischen Prozesse verstehen, nach utopischen und naiven Lösungen suchen. Für mich ist es wichtig, dass ich – aber auch andere nicht-betroffene Menschen – sich mit dem Asylwesen auseinandersetzen, damit es nicht nur die Betroffenen sind, die dies gezwungenermassen tun müssen.
OD: Ich hoffe, dass Menschen das Projekt sehen. Und falls ich infolge des Projekts einen positiven Bescheid vom Bundesverwaltungsgericht erhalte, hoffe ich, Menschen darin zu bestärken, provokative und widerständige Handlungen in Betracht zu ziehen.