Die Kamera gleitet über eine monotone Hügellandschaft, der Wind durchstreicht das hüfthohe Gras, im Blitzgewitter schält sich eine Skulptur aus dem Felsen. Von Fern dringen Motorengeräusche ins Ohr, schwellen langsam zu einem Donnergrollen an. Grelle Autoscheinwerfer durchschneiden das undurchdringliche Schwarz einer Sommernacht irgendwo in Anatolien. Die Autokolonne bewegt sich die gewundene Schotterstrasse hoch und hält abrupt. Männer steigen aus und geben erste Anweisungen, dann führen sie die zwei Verdächtigen zum Brunnen. War es hier? Nein, da war ein Baum … Zögernd versetzen sich die Autos wieder in Bewegung. Sie versuchen Ihr Glück in der nächsten Kurve. Sie sind auf der Suche nach einer Leiche, die überall vergraben sein könnte. Der Mörder (Fırat Tanış) soll der Polizei den Ort zeigen. Doch er will sich nicht mehr genau erinnern. Der Polizist (Yılmaz Erdoğan) ist verzweifelt und wird handgreiflich. Doktor (Muhammet Uzuner) und Staatsanwalt (Taner Birsel) sinnieren indessen über den unerwarteten Tod einer Bekannten. Ist der Tod Mysterium oder blosse Banalität des Lebens? Die Leiche wird erst zum Schluss gefunden, die Todesursache wirft selbst nach der Autopsie Fragen auf. «Once Upon a Time in Anatolia» gibt seine Geheimnisse nicht gerne preis.
Mit seinem Film schuf Nuri Bilge Ceylan ein Gesamtkunstwerk. Von den Dialogen über die Lichtverhältnissen bis hin zur Kameraführung. Alles wurde bewusst komponiert und hat seine Bestimmung. Der international gefeierte Regisseur beherrscht sein Handwerk wie kein zweiter. Anders als in «Weit» (Uzak, Cannes Grand Prix und Best Director 2003) oder «Drei Affen» (Üç Maymun, Cannes Best Director 2008) greift der gelernte Fotograf in seinem neusten Film auf die traditionelle Geschichtserzählung zurück. Mehr Dialog und ein erkennbarer Erzählstrang führen durch den Film. Ceylan verlässt für «Es war einmal in Anatolien» (Bir zamanlar Anadolu'da, Cannes Grand Prix 2011) seine Heimatstadt Istanbul und widmet sich den Widersprüchen und Zwisten Anatoliens. Bilder, die fesseln, unglaubliche Nachtaufnahmen und genügend Zeit, um sich intensiv mit den Details zu beschäftigen. Der Film erklärt nichts sofort und lebt von der Stimmung. Er dauert 157 Minuten. Es sind die eindrücklichsten 157 Filmminuten meines Lebens. An dieser Stelle richte ich einen grossen Dank an die Betreiber des Stattkino Luzern, die das Risiko auf sich genommen und den türkischen Film mit nach Luzern gebracht haben. Angefangen mit der Kapagnolu-Triologie («Yumurta», «Süt», «Bal») bis zu «Once Upon a Time in Anatolia» hat das Stattkino die Tradition fortgeführt und ihrem qualitätsbewussten Publikum den morgenländischen Film näher gebracht. Das beweist Mut und Stil.
«Once Upon a Time in Anatolia», bis 4. Februar, Stattkino Luzern [youtube]http://www.youtube.com/watch?v=zTUrDH-d_Q0[/youtube]