Wuchtige Tasten

Pfistern UP, Alpnach Dorf, 23.08.2020: Ein junger Mann aus Bayern riss am letzten Sonntag das Alpnacher Publikum aus dem Hocker. Trotz schwülem Klima stellte Yojo Christen unbeirrt seine pianistischen Fähigkeiten unter Beweis – und brachte sein Instrument an seine Grenzen.

Auf dem Weg zum Konzertlokal waren aus der Ferne Klavierklänge zu vernehmen, die wie akustische Irrlichter den Weg zur Pfisternstrasse 2 aufzeigten. Das Restaurant Pfistern Alpnach bildet zusammen mit dem darüberliegenden Lokal Pfistern UP ein «Haus des goldenen Gastrechts für Jung und Alt», wie sich der Homepage entnehmen lässt.

Die Stühle des Pfistern UP standen an diesem Sonntagabend um den hauseigenen Petrof-Flügel aufgereiht. Darauf wärmte sich der junge Pianist Yojo Christen gerade auf und ein zum Konzertpublikum gehörender Herr meinte nur: «Das ist die Hammerklaviersonate von Beethoven! Die ist unfassbar schwierig und er spielt sie zum Warmwerden … Einfach fantastisch!» In den letzten 15 Minuten vor dem Konzertbeginn gönnte sich der Bayer einige Happen von seiner Pizza, bevor er sich in sein sportliches Vorhaben stürzte.

Pfistern UP, Yojo Christen

Man begrüsste Yojo Christen mit einem erwartungsvollen Applaus, die Vorfreude lag förmlich in der Luft und die Neugier wuchs mit jeder Sekunde. Der 24-Jährige verbeugte sich dankend und kündigte Haydns «virtuose und liebliche» Sonate in F-Dur Hob. XVI/23 (1773) als Erstes an. Auf einmal fiel der Bildschirm über ihm auf, der eine Live-Aufnahme seiner über die Klaviatur fliegenden Hände projizierte.

Die immer dicker werdende Luft im Raum setzte dem Pianisten schon bald zu, doch er bemühte sich der schwülen Luft zu trotzen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Im Adagio ächzte er jedoch kurz auf, da eine Taste plötzlich ungewollt erklang. Das Publikum mochte dies jedoch gar nicht realisiert haben, man sah dagegen vermehrt ungläubiges Kopfschütteln. Mit einem ungeduldigen Presto beendete der verschwitzte junge Mann das erste Stück und nahm den begeisterten Applaus entgegen. Mit einem verschmitzten Lächeln meinte er, ein zweites Hemd würde bestimmt nicht schaden.

«Ein zweites Hemd würde bestimmt nicht schaden.»

Yojo Christen

Beethovens Klaviersonate in der Varianttonart f-Moll Op. 57 (1807) bezeichnete Christen, dessen eigentlicher Vorname Johannes lautet, als «eine der schönsten, aber auch tiefsinnigsten Sonaten», die Ludwig van Beethoven komponiert hätte. Der Beginn des ersten Satzes ist rhythmisch schwer zu definieren, es erklingen unmöglich bestimmbare f-Moll-Harmonien in den dunklen Tiefen des äussersten Registers, gefolgt von Trillern vom anderen Ende der Klaviatur. Der ganze erste Satz scheint ein rasch abwechselndes Lichtspiel zu sein zwischen unseligen Klüften und dubiosen Sonnenstrahlen.

Yojo Christen

Im zweiten Satz, ein sanft bewegtes Andante con moto in Des-Dur, löste sich der gleichbleibende Tramp im Verlauf der Variationen in ineinander übergehende Klänge und ästhetische Harmonien auf. Das darauffolgende Presto gewann in seinem Verlauf immer mehr an Fahrt und der arme Flügel war der stürmischen Virtuosität und Dramatik, mit der er hörbar konfrontiert war, nicht gewachsen.

Yojo Christen nutzte diesen Konzertabend, um eine seiner Eigenkompositionen zu präsentieren: eine «Ballade». Zum ersten Mal waren Momente der Ruhe zu spüren, die jugendliche Erregtheit legte sich und wurde nur noch bewusst in den weniger rastenden Passagen eingesetzt.

Man könnte Yojo Christen gewissermassen als Enkelschüler von Franz Liszt bezeichnen, da er in der Reihe der Liszt-Schüler in direkter «Erbfolge» studierte. Somit durfte in der zweiten Konzerthälfte dessen Sonate in h-Moll (1853) nicht fehlen, die eine technische und gestalterische Herausforderung für jede*n Pianist*in darstellt. Der junge Altmannsteiner nahm die Prüfung an und unterzog das ihm zur Verfügung stehende Instrument einer schweren Prüfung. Zweifellos besitzt Yojo Christen die technischen Werkzeuge dafür. Um dieses Werk jedoch richtig zu interpretieren, sind Lebenserfahrung und eine jahrelange Auseinandersetzung mit dem damit verbundenen Hintergrund wichtige Voraussetzungen für eine konzertreife Interpretation – zum Leid des jugendlichen Komponisten.

Dafür wurden die Zuhörer*innen förmlich aus dem Hocker gerissen, als Christen während der Zugabe – Toccata in es-Moll Op. 11 von Aram Khatchaturian – das zweite Hemd, das er für die zweite Konzerthälfte angezogen hatte, gänzlich nassschwitzte. Am Ende gab es nichts mehr zu sagen, ausser: Bravo!