Was Tanz alles sein kann

Kleintheater Luzern, 15.02.2017: Drei Grössen der Tanzszene zeigen an einem Doppelabend,  was passiert, wenn die Grenzen zwischen Tanz, Lyrik und Performance verschwimmen. Das Publikum reist mit Irina Lorez durch Städte wie Krakau und Helsinki und mit Deborah Gassmann und Lior Shneior durch die dunklen Gassen der menschlichen Ängste.

Es ist dunkel und still im Kleintheater Luzern. Alle Augen richten sich auf Irina Lorez, die am Rande der Bühne steht und ein Mikrofon wie das Pendel einer Wanduhr über den Boden schwingt. Viel passiert nicht. Und doch – oder eben genau deshalb – liegt eine spürbare Spannung in der Luft. Bei jedem Schwung produziert das Mikrofon einen Ton, mal quietschend, mal rein. Ein blaues Licht bescheint nun die schwarze Wand hinter der Tänzerin und lässt erkennen: Wir befinden uns in Krakau.

Der Körper erzeugt die Musik

«I – Guitar Songlines» besteht aus dem «I» für Irina Lorez und dem «Guitar» für ihre elektrische Gitarre. Mehr braucht es nicht für diese experimentelle Performance, denn die Musik und Choreografie tanzt Lorez simultan. Ja, sie tanzt die Musik, denn die entsteht durch die Bewegungen ihres Körpers live auf der Bühne. So führt die Performerin die Zuschauerinnen und Zuschauer durch die Städte Krakau, Paris, Chicago, Berlin, Kathmandu und Helsinki, die sich in ihrer Interpretation erheblich unterscheiden. In Paris nimmt die Lyrik die Überhand, als Lorez im Loop ihren selbstgeschriebenen Rap vorträgt und sich in wilde Emotionen hineinsteigert. In Kathmandu erzeugt sie die Musik wiederum vorwiegend durch die Vibrationen ihres Bauches, auf dem die Gitarre sich rythmisch und arrhythmisch hebt und senkt.

Beeindruckend, wie geschmeidig und kreativ sich die Tänzerin in allen Bereichen bewegt. Der Zuschauerschaft steht ständig unter Strom, weiss nie, was als nächstes passiert. Die Gitarre nimmt mal die Funktion des Schutzschildes und mal die des Kraftgeräts ein, mal mimt sie die Töne des Herzens.

Bild: Ralph Kühne

Lorez und ihre Gitarre vermögen die Räumlichkeiten des Kleintheaters völlig für sich einzunehmen. Nicht nur die Tänzerin, auch das Publikum scheint in einer Art Trance zu schweben. Bestimmt rührt dieser Zustand auch daher, dass die Performerin sich für alles genügend Zeit nimmt. Für das Schreiben der Städtenamen, fürs Wassertrinken und natürlich für eine langsame Steigerung der Bewegungen und der Musik. Den tosenden Applaus hat Irina Lorez mehr als verdient.

«Dance your fears»

Nach einer Pause beginnt die Performance der Luzernerin Deborah Gassmann zusammen mit Lior Shneior aus Berlin, ebenfalls in Dunkelheit, in vollkommenem Schwarz. Zu hören ist nur eine Frauenstimme, die von einer Bombenexplosion in einem Flugzeug erzählt. Das sei der Anfang der Sicherheitskontrollen im Flugverkehr gewesen, sagt sie zitternd.

Gassmann und Shneior haben ebenso wie Irina Lorez an der Folkwang Hochschule in Essen ihre Tanzausbildung absolviert. In ihrem Duett widmen sie sich ganz dem Thema Angst und wie versucht wird, sich vor ihr zu schützen. «Duck and Cover» heisst die Performance, benannt nach einer in den 50er Jahren in den USA propagierten Schutzstrategie für den nuklearen Ernstfall. Passend dazu trägt das Duo schwarze Ganzkörperanzüge. Die Choreografie illustriert einen Machtkampf, wie er am Zoll eines Flughafens aussehen könnte.

Auch mit Texten beschreiben die Performenden verschiedene Szenen der Angst. In einem englischen Monolog spielt Gassmann eine Zollbeamte, die einen Reisenden mit Fragen  bohrt. «Calm down, I have to ask these questions. It’s a routine», sagt sie immer wieder, als sie ihn mit Fragen über sein Liebes- und Sexualleben ausquetscht. Die Situation wirkt entwürdigend, die Furcht des Opfers spürt man durch dessen Schweigen und seine  flüchtende Körperhaltung an der schwarzen Wand. Auch Shneior erzählt von der Angst, genauer der Angst vor Gewalt, Einsamkeit und dem Tod. Der Rat der beiden Tänzer ist einfach: «Dance your fear!»

Die Angst mit Tanzen besiegen. Gassmann und Shneior zeigen, wie’s geht. Zu elektronischer Musik von Udi (Ehud) Berner zeigen sie ein packendes Duett. Während der Performance entsteht aus Klebeband nach und nach ein Bild an der Wand, das ein «Exitmännchen» und auf der anderen Seite ein Herz zeigt. Man soll sich mit Herz seinen Ängsten stellen. Ein fast schon versöhnlicher Abschluss.

Die beiden Performances des Doppelabends im Kleintheater unterscheiden und ergänzen sich wunderschön. Irina Lorez bringt viel Improvisation und Experimentelles auf die Bühne, während Deborah Gassmann und Lior Shneior mit einer tollen (und ganz toll getanzten!) Choreografie überzeugen. Manch ein Zuschauer dürfte an diesem Abend von den verschiedenen Facetten der modernen Tanzkunst überrascht worden sein.

Weitere Doppelabende mit «I – Guitar Songlines» und «Duck and Cover»: 17. Februar, Kleintheater, Luzern & 15. September, Burgbachkeller, Zug.

Weitere Zentralschweizer Aufführungen von «I – Guitar Songlines»: 25. März, bau4, Altbüron & 02. Juni, Alte Schreinerei, Sarnen. www.irinalorez.ch

Bilder: Ralph Kühne