Von der Wiederaneignung der Erotik im experimentellen Pop

Seit einigen Jahren fallen immer mehr Musiker:innen aus der internationalen experimentellen Popszene mit Performances und Inszenierungen auf, die von höchst eigenwilligen und expliziten erotischen Ausdrucksformen geprägt sind. Damit sorgen sie nebst viel Zuspruch auch für Irritation. Ein Deutungsversuch dieses Phänomens anhand der aktuellen Show des norwegischen Musikerinnenduos Smerz, das auch am diesjährigen B-Sides Festival auftritt.

«Wenn sie nicht so aussähen, wären die sicher nicht gebucht worden.» – «Also ich fands peinlich.» – «Ich frage mich manchmal, ob sie so nicht auch einfach was kaschieren wollen.» – «Meinen die das ernst?» Diese und ähnliche Äusserungen hörte ich letzten November nach dem Konzert des norwegischen Duos Smerz (Bild links) im Rahmen des Saint Ghetto Festivals in der Dampfzentrale Bern, das ich co-kuratiert habe. Begleitet wurden diese Aussprüche von einigen empörten Abgängen während des Konzerts. Obwohl ich solche Reaktionen (leider) einkalkuliert hatte, lösten sie Unbehagen in mir aus.

Beginnen wir von vorne. Smerz, das sind Catharina Stoltenberg und Henriette Motzfeldt, Künstlerinnen, die sowohl mit ihren Produktionen zwischen R&B, Electronica und Folklore wie auch mit einer eigenwilligen visuellen Sprache seit einigen Jahren auf ihr Schaffen aufmerksam machen. In der Show, die das Duo in den letzten Monaten auf internationalen Bühnen präsentiert hat und von der hier die Rede ist, sehen wir die beiden Performerinnen zumeist beide auf einem Flügel liegend oder sitzend ihre Stücke performen. Konkret: zwei klare Stimmen, mit denen sie symbiotisch nacheinander, übereinander, miteinander kommunizieren, mit Worten, manchmal auch nur Lauten. Dies alles unterlegt von Backing-Tracks und begleitet von zwei Cellos. Von einem Song zum nächsten wechseln sie ihre Position oder eher: ihre Pose. Etwas unbeholfen wirken ihre Bewegungen auf dem Piano. Zwischendurch richten sie Haare und Kleidung. Letztere fällt knapp und eng aus, die Absätze sind hoch und alles somit höchst unpraktisch für dieses dynamische Unterfangen. Ab und an folgen ihre Bewegungen einer minimalistischen, leicht skurrilen und zugleich witzigen Choreografie.
 

Smerz: Posen mit Kalkül

Smerz sind zwei weisse Cis-Frauen mit langen Haaren und schlanker Statur. Der ganze Ablauf ihrer Show wirkt minutiös einstudiert, jede Pose wie auch die Übergänge dazwischen. Wer genauer hinschaut, erahnt ein Kalkül dahinter. Ansonsten läuft man Gefahr, die Performance voreilig zu bewerten, und zwar einem konservativen, sexistisch geprägten Muster folgend.

Wahrscheinlich hätte ich die Frage, weshalb die durch explizit erotische Codes geprägte Performance von Smerz einige Menschen derart zu triggern vermag, vor ein paar Jahren damit begründet, dass die beiden Musikerinnen stereotype Frauenbilder stärken, die die feministische Bewegung doch seit Jahrzehnten aufzulösen versucht – und dies in einer musikalischen Szene, die nicht unbedingt kommerziellen Mechanismen folgt. Das war, bevor ich begonnen habe, mich näher mit weiteren Strömungen der feministischen Bewegung zu beschäftigen, die verstärkt aufzeigen, wie Privilegien immer auch Benachteiligung erzeugen, stets mit Machtpotenzial verbunden sind und das kreieren, was der Grossteil der Bevölkerung als Norm versteht.

Das Erotische ausserhalb des Schlafzimmers

Normen gehen also mit Machtpositionen Hand in Hand. Wenn die kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, medialen und somit auch konsensbildenden Institutionen über Jahrtausende weiss, männlich und heteronormativ geprägt sind, bedeutet dies auch, dass vor allem die Interessen dieser Gruppe durchgesetzt werden und dominieren. So können wir uns in jeglichen Aspekten des Lebens – in diesem Fall im Zusammenhang mit Erotik – fragen, ob wir der aktuellen Norm tatsächlich zustimmen können. Durch das Neubewerten und Prüfen auf die Sinnhaftigkeit für Identitäten, die eben nicht weiss, männlich und heteronormativ sind, können wir zu Akteur:innen werden und solch festgefahrene Normen untergraben.

Erotik, so vermittelten mir Erziehung, Medien, Bildung und Kultur, gehört ins Schlafzimmer. Wird sie ausserhalb dieses Raumes sichtbar, wirkt das Stigma in Bezug auf den weiblichen, verfügbaren Körper. Aber worin liegt überhaupt das Problem des öffentlich sichtbaren, erotischen Ausdrucks? Um nochmals auf Smerz zu kommen: Mein Unmut über die abschätzigen, stigmatisierenden Bemerkungen rührt nun einerseits daher, dass ich mich mit dem künstlerischen Beitrag von Smerz als weiblich sozialisierte Person identifizieren kann. Die genannten Reaktionen führen mir dabei problematische Dynamiken vor Augen, die auch in meinem Leben wirken. Wie zum Beispiel die unangenehme Gewohnheit, dass ich stets und automatisch kontrolliere, wie ich gerade gekleidet bin, wenn ich nachts eine verlassene Strasse entlanglaufe. Die anfangs erwähnten Kommentare, die auf Smerz’ Performance folgten, entspringen meines Erachtens derselben Argumentationslogik wie die Legitimierung von Abschätzigkeit, Anmache oder gar Missbrauch von öffentlich sichtbaren, freizügigen, weiblichen Körpern als selbstverschuldet. Andererseits spielen die beiden Performerinnen mit der Erwartung an eine perfekt verkörperte Grazie – ein Druck, den ich selber und bei vielen meiner Freundinnen erfahren habe und der oft mit einer Verunsicherung einhergeht, was den eigenen Körper, das Sich-Bewegen, Sich-Kleiden oder Verhalten angeht. Die Bewertungen lauern an jeder Ecke. Kurz gefasst lautet die Verhaltensnorm also: Wenn erotisch, dann bitte geschickt und professionell performt oder privat. Denn Erotik ist bedrohlich.

 

 

Kurz gefasst lautet die Verhaltensnorm also: Wenn erotisch, dann bitte geschickt und professionell performt oder privat. Denn Erotik ist bedrohlich.

 

Und ich glaube übrigens nicht, dass die Absender:innen der Kommentare am Konzert von Smerz bewusst daran interessiert sind, bestehende Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Vielmehr sind sie sich nicht bewusst, dass ihre Abschätzigkeit von ebendiesen Machtstrukturen und den daraus hervorgehenden Normen beeinflusst ist.
 

Spiel mit den Erwartungen an die erotische Performanz

Die verstorbene US-amerikanische Poetin und Aktivistin Audre Lorde beschreibt in ihrem Essay «Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht» – den ich sehr zu lesen empfehle! – das erotische Empfinden als Quelle von Wissen, kreative Kraft und «offene und furchtlose Bejahung der Fähigkeit, Freude zu empfinden», und zwar als Befriedigung abseits von Ehe, Religion oder einem Leben nach dem Tod. Denn darin liege laut Lorde auch die Bedrohung der Erotik, die ausserhalb des Schlafzimmers erfahren wird. Indem sie Erotik als eine Form von Selbstausdruck versteht, die als lebensbejahende, kreative Existenz zu wirken beginnt, werden die etablierten Machtstrukturen – das sind vor allem die, wie bereits erwähnt, weissen, männlichen und heteronormativ geprägten Normen und Institutionen wie Religion, Ehe oder auch Monogamie – infrage gestellt. Und gar gefährdet. Das Erotische als subversive Kraft also und gleichzeitig als lustvoller und sinnlicher Ausdruck, welcher Art auch immer.

In «Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht» finde ich viele Parallelen zu Smerz’ Performance: Die beiden Künstlerinnen tragen knappe, enge und zugleich ausgefallene Kleidung, nehmen verspielte Posen ein, singen und betrachten sich dabei innig. Gleichzeitig zeigen sie die Schwierigkeit dieses Unterfangens auf, indem sie vorführen, wie umständlich die Bewegungsabläufe sind. «Es ist so wahr. Auch wenn es schön ausschaut, es ist halt verdammt noch mal nicht einfach, sich in hohen Schuhen und knapper, enger Kleidung fliessend zu bewegen», meinte eine Freundin von mir nach dem Konzert. Smerz spielen mit den Erwartungen an die erotische Performanz, verdrehen sie, führen sie vor, treiben sie immer wieder sanft ins Skurrile und erweitern ihre Soundwelt so um eine höchst ästhetische und gleichsam aktivistische Ebene.

 

 

Wie auch Smerz spielen Künstler:innen mit den Erwartungen an die erotische Performance, verkörpern diese gleichsam selber und eignen sich so eine ursprünglich patriarchal geprägte Ästhetik und Ausdrucksform wieder an – als kreative Praxis und Selbstermächtigung.

 

Muster auf- und Körper erlösen

Die Wiederaneignung von erotisch-geprägtem Ausdruck reiht sich im Fall von Smerz in einen seit mehreren Jahren zu beobachtenden Trend in den zeitgenössischen, kommerziellen wie auch experimentellen Popsphären und insbesondere auch in queeren Szenen ein. Die New Yorker Musikerin Eartheater zum Beispiel verfolgt auf ihre eigene Art ähnliche Ausdrucksformen, indem sie in knappen und zugleich verspielt ausgeschmückten Outfits, mit opulentem Make-up und aufwendiger Frisur auftritt. Hinzu kommt eine teils klischierte und dennoch sehr eigenwillige, sexpositive Bildsprache auf Social Media oder in ihren Musikvideos. Der Saxophonist Bendik Giske trägt bei seinen Shows jeweils hohe, bis übers Knie reichende Lackstiefel, zieht sich in der Mitte des Konzerts manchmal bis aufs Unterkleid aus und posiert in seinen Pressebildern oftmals unbekleidet. Der visuelle Auftritt von Rapkünstler:in Iceboy Violet aus Manchester löst die Grenzen zwischen erotischer Inszenierung und Kunstinstallation komplett auf. Wie auch Smerz spielen diese Künstler:innen mit den Erwartungen an die erotische Performance, verkörpern diese gleichsam selber und eignen sich so eine ursprünglich patriarchal geprägte Ästhetik und Ausdrucksform wieder an – als kreative Praxis und Selbstermächtigung. Darin unterscheiden sie sich auch von den in patriarchalen Systemen kommerziell gezeichneten und ausbeuterischen Images, die den damals noch jungen Popsternchen wie Britney Spears oder Miley Cyrus übergestülpt wurden. Einige aus dem Publikum vermögen sie mit dieser radikalen Aneignung sicherlich zu irritieren, gleichzeitig scheinen die Performer:innen musikalisch wie auch visuell einen Nerv zu treffen, was die vielen ausverkauften Konzerte verdeutlichen.

Erotik ist in gewissen Popsphären heute nicht mehr nur eine kommerzialisierte Ware und eine Form, weibliche Körper zu objektivieren, sondern sie wird aktiv eingefordert und auf der Bühne künstlerisch überhöht.

Beim Verspüren von Verwirrung oder Abneigung gegenüber solchen künstlerischen Darbietungen innezuhalten und zu versuchen, die eigene Voreingenommenheit wahrzunehmen, ergäbe aus meiner Sicht eine positive und produktive Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Denn meistens verrät mir mein Urteil mehr über mich selbst als über das verurteilte Objekt.


Bendik Giske 

FR 17.06.2022 / 21.25 Uhr

Eartheater

SA 18.06.2022 / 20.55 Uhr

Smerz

SA 18.06.2022 / 22.05 Uhr

B-Sides Festival

DO 16. bis SA 18.06.2022
Sonnenberg Kriens
b-sides.ch


 

041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Dominika Jarotta
Bild: Elisabeth Blättler, Sam Clarke und Ana Ratdtsenko

Dominika Jarotta co-kuratiert das B-Sides-Festivalprogramm sowie das Musikprogramm in der Dampf zentrale Bern.


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