Terrain vague oder: Der Zustand permanenter Irritation

Ich wusste nicht, ob die Frau, die sich vor mir aufpflanzte und mit durchdringendem Blick anstarrte, auch zu den zahlreichen Performerinnen gehörte, die gestern das gesamte Lido-Terrain aus den Angeln hebten. Ob nicht vielmehr sie mich für eine der Performenden hielt oder ob sie vielleicht einfach nur etwas verwirrt war. Für einige Abendstunden verwandelte sich gestern das Strandbad Lido, das noch bis nächsten Samstag brach liegt, in eine durchlässige Zone verschiedenster musikalischer, installativer und aktionistischer Interventionen.

Von Andrea Portmann

Strandbäder wie das Lido Luzern strahlen ausserhalb der Saisonzeit eine eigensinnige Anziehungskraft aus. Nicht wirklich Strandbad, da (noch) nicht in Betrieb und also ihrer eigentlichen Funktion/Codierung enthoben und gleichzeitig doch klar als Strandbad erkennbar, entsteht während dieser Brachzeit eine Art Vakuum, ein terrain vague. Genau so ein Ort kann sich öffnen, durchlässig werden beispielsweise für künstlerische Interventionen, die sich einnisten – die wiederum den Ort nicht fix festschreiben, sondern die Verunsicherung, die ihm per se schon anhaftet, vielmehr noch verstärken. In gewissem Sinne hat sich im Projekt «Zone Lido», das in Zusammenarbeit mit Studierenden der Hochschule und dem Forum Neue Musik Luzern entstanden ist, die Disposition des terrain vague auf vielschichtige Weise gespiegelt.

Anhand von Aussteckungen, die ein Viereck markierten und sich über das gesamte Lido Areal erstreckten, liessen sich noch kommende Interventionen erahnen. Hier konnte etwas passieren, musste aber nicht. Bereits nach wenigen Schritten, entdeckte ich im Lido einige schwarz gekleidete Frauen und Männer, die einfach nur da standen, sich verrenkten, Bewegungen in die Luft zeichneten, konzentriert Gymnastikübungen ausführten, einem zuwinkten, sich auf den Boden legten und wieder aufstanden oder aber zielstrebig und doch ziellos in der Gegend herumspazierten.

Für mich war zuerst ganz klar: Das sind also jetzt die schwarz Gekleideten, die machen hier auf dem Areal ihre Performances. Ich dachte, ich hätte die ganze Situation schön im Griff. Doch mit der Zeit kippte das Ganze und es war überhaupt nicht mehr klar, wer hier wen beobachtete, wer ZuschauerIn und wer AkteurIn war, nicht zuletzt deshalb, weil es auch BesucherInnen gab, die schwarz gekleidet waren und so quasi unfreiwillig ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerieten. Mein Handy klingelte, und in dem Moment, als ich ein Gespräch anfing, mimte mich ein Typ in unmittelbarer Nähe, fuchtelte mit den Händen, wie ich, ahmte meine Mundbewegungen nach – mir wurde zugegebenermassen etwas unwohl.

Nicht nur sämtliche Menschen rundherum wurden plötzlich potentiell verdächtig, etwas im Schilde zu führen, auch die verschiedenen Orte und Nischen machten sich auf verunsichernde Weise bemerkbar. Der Spielplatz ächzte und quietsche, als würde er lebendig, der Lido-Haupteingang war in ein weisses Rauschen gehüllt und aus dem Würzenbachkanal heraus quoll ein unheimliches Röhren. Beim Gang entlang der Kabinen und Kleiderschränke erschallten einzelne Töne, die echoartig aufeinander reagierten. Auch hier wurde man darüber im Unklaren gelassen, ob es sich um ein «Live-Konzert» handelte, oder ob etwas abgespielt wurde.

Ansonsten war die Stimmung extrem still, niemand getraute sich, allzu laut zu sprechen, alle waren (an)gespannt, warteten auf das, was wohl im nächsten Moment passieren möge. Mehrere Male wurde diese wache Aufmerksamkeit durch skurrile Aktionen und ein ausgeklügeltes Spiel mit den Erwartungshaltungen gebrochen.

Plötzlich drang wildes Geschrei von den Kabinen her, eine Horde Frauen und Männer in Bademontur stürmten  hinunter zum Strand – alle rundherum schauten dem Treiben ungläubig zu – hielten, noch bevor sie ganz im Wasser standen, inne und kehrten wieder um. Schallendes Lachen rundherum. Ebenfalls für einige verdutze und amüsierte Blicke gesorgt hat ein illustres Trio, bestehend aus einem blockflötespielenden Mann, einer geigezupfenden Frau und einem Obertöne piepsenden Mann. Dem Anschein nach dilletantisch hielten sie jeweils für ein glockenklares A-capella-Ständchen inne und sagen ein Sennelied in die romantische Vierwaldstättersee-Abenddämmerung hinaus.

Spannend waren vor allem auch jene Momente, in denen Verdichtungen und Überlagerungen entstanden oder aber Wiederholungen, beispielsweise bestimmter Musikeinlagen, erkennbar wurden. Trotz des spontanen, überraschenden Charakters der ganzen Aktionen spürte man die Komposition dahinter, das sich an den unterschiedlichen Lichtstimmungen orientierende Timing. In unmittelbarer Nähe zweier improvisierender Musiker, blieb ein seltsam bebrillter junger Mann mit einer Holzkiste wie angewurzelt stehen, aus der Kiste erklang «Twist Again», zu ihm gesellten sich zwei summende Frauen. In einer benachbarten Aussteckung übten sich einige ältere Damen in Tai-Chi und klatschten dazu einhellig mit ihren riesigen Fächern – der Grat zum «Gschpürschmi» war an diesem Abend sehr schmal, er wurde aber erfreulicherweise nur einige wenige Male überschritten.

Beispielsweise gegen Ende der ganzen Performance, als die Aussteckungen sich in lange Stäbe verwandelten und sich die schwarz Gekleideten am Strand zu einem kreisartigen Stabgebilde formierten. Da standen sie lange (zu lange), wie ein Mikado-Set kurz vor dem Loslassen, dazwischen mengten sich vereinzelt Trommelschläge, Geigen- oder Klarinettentöne, langsam geriet das Gebilde in Bewegung, schwankte rauschend hin und her, zerstreute sich...

An «Zone Lido» faszinierte das heterogene Gesamtbild, die unbändige Vielzahl gleichzeitig stattfindender, hintersinniger Aktionen, das Setting, die romantische Abenddämmerung, die Umgebungsgeräusche, die sich selbstverständlich unter die inszenierten Töne und Bewegungen mischte. Der Zustand des Irritiertseins, der Verunsicherung, blieb bis zum Schluss erhalten: Ein Ruderboot tauchte plötzlich, nahe des Strandes, auf. In rhythmischer Abfolge gaben die Ruderer gut hörbar Laute von sich. Zufall oder Inszenierung?